Schlamm, Schweiß und Tränen
hinten geschleudert wird. Für einige wenige kostbare Sekunden verliere ich das
Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, sehe ich, wie das letzte Stück Eis an
mir vorbei in die Tiefe saust.
Mein Körper pendelt am Ende des Seils langsam hin und her,
dann ist es auf einmal gespenstisch still.
Das Adrenalin rast durch meine Adern und ich spüre, wie mein
Körper von Krampfanfällen geschüttelt wird.
Ich schreie laut nach Mick, doch die Wände werfen das Echo meiner Hilfeschreie zurück. Dann schaue ich abwechselnd zuerst hinauf
zu dem hellen Lichtstrahl, der von oben kommt, dann hinunter in
den tiefdunklen Abgrund.
Verzweifelt versuche ich, mich an der Gletscherwand festzukrallen, aber sie ist spiegelglatt. Von Panik getrieben, versuche ich mit aller Kraft meinen Eispickel in die Wand zu schlagen, doch er findet
keinen Halt und auch meine Steigeisen schrammen nur quietschend
über die Eisoberfläche.
In meiner Verzweiflung klammere ich mich an das Seil über mir
und schaue hinauf.
Ich bin doch erst 23 und habe den sicheren Tod vor Augen.
Schon wieder.
Das Seil, an dem ich da unten baumelte, war allerdings
nicht dafür ausgelegt, einem so großen Fangstoß standzuhalten, wie
er bei einem derart tiefen Sturz auftritt.
Denn es war nur ein Fixseil, ein einfaches, dünnes Statikseil, das
alle paar Tage erneuert werden musste, weil es durch die permanente
Bewegung der Eismassen aus seiner Verankerung gerissen wird. Doch
da Statikseile nur eine minimale Dehnbarkeit aufweisen, dürfen sie
nur zur Unterstützung und Sicherung für den Auf- und Abstieg eingesetzt werden, aber nie zur direkten Personensicherung beim Klettern, dafür nimmt man dynamische Seile.
Deshalb war mir klar, dass dieses Seil jede Sekunde reißen konnte.
Die Sekunden fühlten sich an wie eine Ewigkeit.
Dann plötzlich spürte ich einen starken Zug am Seil.
Ich schlug die Frontalzacken meiner Steigeisen wieder in die
Wand.
Dieses Mal bohrten sie sich fest ins Eis.
Dann kämpfte ich mich die Wand hinauf, indem ich mit jedem
Zug am Seil meine Steigeisen einen halben Meter weiter oben ins Eis
bohrte.
Ich schaffte es schließlich, meinen Eispickel an der Abbruchkante
in den Schnee zu hauen und mich hochzuziehen.
Starke Arme packten mich an meinem Expeditions-Daunenanzug
und hievten mich aus dem Schlund der Gletscherspalte. Ich krabbelte
weg vom Rand, heraus aus der Gefahrenzone, und brach als zitterndes
Häufchen Elend zusammen.
Ich lag mit geschlossenen Augen da, mein Gesicht in den Schnee
gedrückt, und hielt Micks und Nimas Hände fest umklammert, während ich vor Angst nur so zitterte.
Ich bezweifle sehr, dass Mick überhaupt die Kraft hätte aufbieten
können, um mich aus dieser Gletscherspalte herauszuziehen, wenn
Nima nicht das Krachen des einstürzenden Eisblocks gehört hätte
und noch dazu ganz in der Nähe gewesen wäre. Nima hatte mein Leben gerettet, dessen war ich mir bewusst.
Auf dem Rückweg, während des zweistündigen Abstiegs aus dem
Eisbruch, wich Mick nicht von meiner Seite. Nervös umklammerte
ich jedes Seil und klinkte mich mit meinem Expressset ein.
Mittlerweile überquerte ich die Leitern als völlig anderer Mensch
- meine Selbstsicherheit war verschwunden. Mein Atem war flach
und keuchend und meine ganze Kraft und mein Adrenalin waren
schon lange aufgezehrt - nichts war mehr übrig.
Es ist dieser extrem schmale Grat zwischen Leben und Tod, der
letztlich über das Schicksal eines Menschen entscheidet. Und was
mich betraf, so war ich momentan komplett durch den Wind.
Dabei hatte die eigentliche Everest-Expedition ja noch nicht einmal angefangen.
Als ich in jener Nacht allein in meinem Zelt lag, weinte ich leise
vor mich hin und ließ all meinen Gefühlen freien Lauf. Das war jetzt
das zweite Mal in nur zwei Jahren, dass ich den sicheren Tod vor Augen hatte.
Ich schrieb in mein Tagebuch:
31. März, Mitternacht.
Heute habe ich eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchlebt. Und wenn
ich so darüber nachdenke, kann ich noch immer nicht ganz begreifen,
dass dieses Seil meinen Sturz abgefangen hat.
Während des Abendessens hat Nima den anderen Sherpas diese Geschichte mit schnellen und dramatischen Handbewegungen erzählt. Daraufhin
habe ich von unserem schwerhörigen Koch Thengba die doppelte Essenration erhalten; ich glaube, das war seine Art, beruhigend auf mich einzuwirken. Ein netter Mann. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie unbarmherzig dieser Berg sein
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