Schlamm, Schweiß und Tränen
tatsächlich
fast eine geschlagene Stunde dafür. Doch dann endlich hatten wir es
geschafft.
Wir quetschten uns zusammen ins Zelt und warteten. Warteten
darauf, dass es Nacht wurde.
Allein der Gedanke daran, dass ich 17 Stunden lang diese verflucht schweren Sauerstoffflaschen mit mir herumschleppen müsste, erfüllte mich mit Angst und Schrecken.
Ich konnte bereits spüren, dass meine Kraft langsam, aber sicher
immer weniger wurde.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffen sollte, mir die schweren Flaschen auf den Rücken zu laden - ganz zu schweigen davon, wie
ich sie über eine so große Distanz so hoch hinauf auf den Berg tragen
sollte, und das durch hüfthohen Schnee.
Doch anstatt diesen Gedanken nachzuhängen, versuchte ich lieber, mir all die schönen Dinge vor Augen zu führen.
Ich dachte an zu Hause, an meine Familie und an Shara. Doch sie
alle waren meiner Erinnerung auf eigenartige Weise entrückt.
Denn ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie ihre Gesichter aussahen. Das lag eindeutig am Sauerstoffmangel. Denn er raubt
einem nicht nur jegliche Erinnerung und jegliche Empfindung, sondern auch jegliche Kraft.
Ich versuchte, alle negativen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen.
An nichts anderes zu denken als an diesen Berg.
Bring es einfach zu Ende, Bear, aber bring es gut zu Ende.
Es ist so gut wie unmöglich, den Zustand körperlicher und seelischer Trägheit zu beschreiben, in dem man sich in dieser extremen
Höhe befindet. Es gibt einfach nichts, was einen antreibt - und es ist
einem irgendwie auch alles egal. Das Einzige was man will, ist sich
zusammenrollen und seine Ruhe haben.
Das ist auch der Grund dafür, warum gerade in dieser Höhe eine
so scheinbar eigenartige Faszination vom Tod ausgeht - als ob er die
einzige Möglichkeit wäre, um von dieser eisigen Kälte und diesem
Schmerz auf wohltuende Weise erlöst zu werden.
Aber genau darin besteht ja die große Gefahr auf diesem Berg.
Ich versuchte, mich aus meiner Liegeposition aufzusetzen. Der
Reißverschluss unseres Vorzelts war leicht defekt und ließ sich daher
nur zur Hälfte schließen, sodass ein Teil der Zeltplane im Wind flatterte.
Von dort, wo ich saß, konnte ich weit über den einsamen Südsattel
blicken, bis zu jener Stelle, wo die steile Schneeflanke begann, die
noch vor uns lag. Wenn der Wind über das Eis fegte und dabei kleine
Haufen aus Pulverschnee aufwirbelte und sie vor sich hertrieb, wirkte
der Berg kalt und bedrohlich.
Ich konnte die Stelle sehen, wo Mick abgestürzt war. Er hatte verdammt großes Glück gehabt.
Oder hatte er etwa einen Schutzengel? Meine Gedanken überschlugen sich.
Ich dachte an all jene Bergsteiger, die ihren Traum, einmal auf
dem Gipfel zu stehen, mit ihrem Leben bezahlt hatten.
War es das wert?
Ich wusste keine Antwort auf diese Frage.
Das Einzige, was ich aber sicher wusste war, dass fast alle Gipfelaspiranten oberhalb des Südsattels ums Leben gekommen waren.
Es ist sieben Uhr abends. Wir haben noch eine halbe Stunde, bis
wir damit anfangen müssen, uns wieder mühsam in Montur zu werfen und die Ausrüstung umzuschnallen.
Diese Prozedur würde uns mindestens eine Stunde kosten.
Wenn wir damit fertig wären, würde kein noch so kleines Fleckchen
von unserem Körper und unserem Gesicht mehr zu sehen sein. Wir
würden uns in komplett vermummte Gestalten verwandeln, die dicht
zusammengedrängt darauf warten, ihrem Schicksal entgegenzugehen.
Ich öffnete die oberste Tasche meines Rucksacks und zog ein paar
verkrumpelte Seiten heraus, die ich in eine Plastiktüte eingewickelt hatte. Ich hatte sie ausschließlich für diesen Augenblick mitgenommen.
Selbstjunge Menschen ermüden und werden kraftlos, starke Männer
stolpern und brechen zusammen. Aber alle, die ihre Hoffnung auf den
Herrn setzen, bekommen neue Kraft. Sie sind wieAdler, denen mächtige Schwingen wachsen. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen
und sind nicht erschöpft. - -'
Jesaja 40, 30-31
Ich spürte, dass diese Zeilen das Einzige waren, was ich wirklich
hier oben hatte. Denn hier gibt es sonst niemanden, der noch genügend Kraft zur Verfügung hat, um für meine Sicherheit zu garantieren. Hier ist man wirklich allein mit seinem Schöpfer. Keine Heuchelei, keine leeren Phrasen - kein Plan B.
In den nächsten 24 Stunden würde die Wahrscheinlichkeit, dieses
Gipfelabenteuer nicht lebend zu überstehen, eins zu sechs betragen.
Folglich konzentriert man sich nur auf
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