Schlamm, Schweiß und Tränen
das absolut Wesentliche. Und
auf diese Weise bekommt der Sinn des Lebens eine völlig neue Dimension.
Es war an der Zeit, dass ich dem Tod ins Auge schaute. An der
Zeit, dass ich mir eingestand, dass ich Angst hatte und mich an der
Hand des Allmächtigen festhielt und weiterkletterte.
Denn während wir immer höher hinaufstiegen, dem Gipfel entgegen, würden diese Bibelverse die ganze Zeit über durch meinen Kopf
kreisen, und zwar die ganze nächste Nacht und den nächsten Tag.
Wir hatten beschlossen, das Lager bereits um
21 Uhr zu verlassen - also sehr viel früher, als die Gipfelstürmer normalerweise aufbrechen.
Denn unsere Wettervorhersage hatte starke Höhenwinde angekündigt, die im Laufe des Tages noch weiter zunehmen sollten. Deshalb wollten wir noch in der Nacht so weit wie möglich aufsteigen,
bevor diese Winde noch stürmischer werden.
Geoffrey, Alan und Michael kamen wenig später ebenfalls aus ihrem Zelt gekrochen - sie sahen aus wie Astronauten, die sich für einen
Weltraumspaziergang gerüstet hatten. Am Zelt der Sherpas war der
Reißverschluss noch zugezogen. Neil weckte sie. Sie sagten, wir sollten schon mal vorausgehen; sie würden nachkommen.
Es hatte irgendwie schon etwas Mystisches, als wir fünf über den
Südsattel gingen - wie Soldaten, die trotz großer Erschöpfung in den
Kampf ziehen.
Als wir das Ende des Südsattels erreichten, führte die Schneeflanke extrem steil nach oben.
Wir begannen mit dem Aufstieg in die hohe, ausgesetzte Wand,
der Lichtkegel unserer Stirnlampen huschte vor uns über den Schnee
und leuchtete unmittelbar den Bereich vor unseren Füßen aus. Dieses Licht war jetzt unsere Welt: Es zeigte uns, wo wir unsere Steigeisen
platzieren und wo wir unsere Eispickel einschlagen mussten.
Das Licht war das Einzige, was wir sehen konnten.
Wie zu erwarten war, zog sich mit der Zeit unsere Gipfeltruppe
etwas auseinander. Alan, Neil und ich übernahmen die Führung -
Geoffrey und Michael stiegen hinterher. Doch beide fielen schon sehr
bald weit zurück.
Nach zwei Stunden thronten wir drei dann hoch oben auf einem
schmalen Eisvorsprung. Wir schauten nach unten.
„Hast Du Schiss?", fragte mich Alan ganz leise. Dies waren die einzigen Worte, die seit unserem Aufbruch aus Lager 4 gefallen waren.
„Ja", antwortete ich. „Allerdings habe ich bei Weitem nicht so viel
Schiss, wie ich hätte, wenn ich jetzt sehen könnte, welchen Steigungswinkel diese Steilwand hat, auf der wir gerade hocken", fuhr ich fort,
ohne ironisch klingen zu wollen.
Doch es war wirklich so. Es war einfach viel zu dunkel, um die
Gefahr zu erkennen. Das Einzige, was wir sehen konnten, war ein
Meer aus Schnee und Eis, das im Schein unserer Stirnlampen hell
leuchtete.
Gegen Mitternacht erreichten wir eine starke Schneeverwehung
aus tiefem Pulverschnee. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir
mussten unsere ganze Kraft aufbieten, um uns durch diesen tiefen
Schnee zu quälen.
Nach jedem Schritt rutschten wir immer wieder zurück, sodass
wir drei Schritte machen mussten, um überhaupt einen Schritt voranzukommen. Der Schnee wehte in meine Sauerstoffmaske und meine
Handschuhe, und meine Schutzbrille fing langsam an zu beschlagen.
Ich fluchte leise vor mich hin.
Wo zum Teufel ist denn dieser verdammte Balkon? Den müssten wir
doch jetzt bald erreicht haben.
Das Einzige, was ich jedoch in der Dunkelheit erkennen konnte
war, dass oberhalb von mir noch mehr Eis und Fels aufragten. Langsam hatte ich keine Kraft mehr.
Gegen ein Uhr nachts überkletterten wir einen weiteren Vorsprung und sanken danach erschöpft im Schnee zusammen.
Wir hatten den Balkon erreicht. Ein großes Glücksgefühl durchströmte meinen Körper. Jetzt befanden uns auf 8.400 Metern über
dem Meeresspiegel.
Ich nahm meine Sauerstoffmaske ab, um Sauerstoff zu sparen,
doch jeder Atemzug in dieser dünnen, eisigen Luft fühlte sich an, als
würde meine Lunge brennen. Brennen wie das Höllenfeuer.
Wir mussten auf die Sherpas warten, die zusätzliche Sauerstoffflaschen heraufbrachten, damit wir unsere halbleeren Flaschen gegen
volle tauschen konnten. Die vollen Flaschen sollten uns dann bis hinauf zum Gipfel und wieder zurück zum Balkon reichen. Auf diese
Weise hätten wir etwa zehn Stunden Zeit, um die letzte Etappe des
Gipfelanstiegs zu bewältigen.
Denn hier, in dieser extremen Höhe, kam es einzig und allein darauf an, dass man genügend Sauerstoff dabei hatte - Sauerstoff bedeutete
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