Schlamm, Schweiß und Tränen
Pause.
Karla antwortete verärgert: „Keine Chance. Ich steige weiter auf.
Es ist mir egal, was Du sagst, ich steige weiter auf."
Dann platzte Henry der Kragen und er schrie ins Funkgerät:
„Karla, hör mir mal gut zu, wir hatten eine Abmachung. Eigentlich
war ich sogar dagegen, dass Du überhaupt wieder aufsteigst, doch Du
hast Dich partout nicht davon abbringen lassen - aber hier ist jetzt für
Dich Endstation. Ich sage das, weil ich Dein Leben retten will."
Henry hatte recht.
Denn Karla hatte schon drei Stunden länger gebraucht als wir, bis
sie endlich in Lager 3 ankam. Wenn sie weiter oben genauso langsam
vorankäme, würde sie sehr wahrscheinlich auf dem Berg sterben.
In der Morgendämmerung begann Karla
dann mit dem Abstieg.
Wir dagegen stiegen weiter hinauf - immer höher.
Nur wenige Minuten, nachdem wir aus Lager 3 aufgebrochen waren, kam es mir so vor, als würde ich unter meiner Sauerstoffmaske
ersticken. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich überhaupt Luft bekomme. Ich riss mir die Maske vom Gesicht und schnappte nach Luft.
Das ist echt verrückt, dachte ich.
Ich überprüfte das Druckventil und warf einen Blick auf die Anzeige des Flussraten-Messers, an dem ich ablesen konnte, ob beziehungsweise welche Menge an Sauerstoff durchströmte. Das Messgerät
zeigte an, dass genug Sauerstoff floss. Also setzte ich die Maske wieder
auf und ging weiter.
Fünf Minuten später war das Atmen noch immer genauso beschwerlich und ich hatte ziemliche Probleme. Ich hatte das Gefühl,
unter dieser Maske zu ersticken. Ich blieb erneut stehen, zog sie mir
vom Gesicht und rang keuchend nach Luft.
Geoffrey blieb hinter mir stehen und stützte sich vornübergebeugt
auf seinen Eispickel. Er schaute noch nicht einmal hoch.
Und wieder setzte ich meine Maske auf; dieses Mal war ich fest entschlossen, ihr zu vertrauen. Denn an der Messanzeige konnte ich ja ab lesen, dass Sauerstoff floss. Das heißt, ich konnte sehen, dass die Flussrate etwa zwei Liter pro Minute betrug - eine recht dürftige Ausbeute.
Durch den geringen, aber stetigen und regulierten Sauerstofffluss war
gewährleistet, dass der Flaschenvorrat etwa sechs Stunden ausreichte.
Allerdings war die Durchflussmenge von zwei Litern pro Minute
nur ein Bruchteil dessen, was wir jede Minute in der dünnen Luft
keuchend verbrauchten - schließlich mussten wir uns mit schwerer
Ausrüstung eine steile Flanke hinaufarbeiten.
Doch diese geringe Menge an Sauerstoff reichte gerade einmal aus,
um einer akuten Sauerstoffunterversorgung in dieser Höhe vorzubeugen, was wiederum das zusätzliche Gewicht für die Sauerstoffflaschen
rechtfertigte. Zumindest annähernd.
Ich sagte mir aber, dass ein weher Rücken und schmerzende Schultern die weitaus bessere Alternative sind, als einen extremen Sauerstoffmangel zu riskieren, der zwangsläufig zum Höhentod führt.
Das Fixseil verlief oberhalb von mir, an der Steilwand direkt nach
oben.
Rechts von mir befand sich eine steile Blankeispassage, die hinauf
zum Gipfel des Lhotse führte. Links von mir fiel die vergletscherte
Lhotse-Flanke mit einer extremen Steilheit - etwa gut 1.200 Meter -
nach unten zum Talkessel des Western Cwm ab.
Jeder noch so kleine Fehler an dieser Wand könnte mich jetzt das
Leben kosten.
Ich versuchte daher, nicht ständig nach unten zu schauen, sondern
mich stattdessen auf die Blankeispassagen direkt vor mir zu konzentrieren.
Langsam stieg ich weiter nach oben und querte das Eis in Richtung einer schroffen Gesteinsformation, die sich förmlich wie ein
Band um die Gipfelpyramide des Everest legt - eine Steilstufe, die die
Lhotse-Flanke quasi unterteilt.
Diese Steilstufe nennt man auch das „Gelbe Band". Es besteht aus
Kalkstein - das heißt, aus einem Sedimentgestein, das sich vor Urzeiten durch Ablagerungen am Boden des Tethysmeeres gebildet hatte, bevor
es im Laufe von Jahrmillionen aufgrund der tektonischen Plattenverschiebungen regelrecht senkrecht in die Höhe gen Himmel geschoben
wurde.
Hier stand ich also, am unteren Ende dieser gelblich gefärbten Gesteinsformation, die sich weiter oberhalb in Nebel hüllte.
Ich lehnte mich gegen den kalten Stein und begann zu hyperventilieren, um auf diese Weise mehr Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen. Damit ich diese felsige Steilstufe überklettern konnte, musste ich
mich zuerst ein wenig erholen und Kraft schöpfen.
Ich wusste, dass Lager 4 nur noch wenige Stunden entfernt wäre,
sobald wir das „Gelbe
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