Schlangenblut (German Edition)
falsch eingeschätzt? War er letztendlich auch nur ein ganz gewöhnlicher Sadist wie Ivan, der Kanadier? Oder dieser andere Schlangenfreund, Pastor Walter?
Das Vorhängeschloss war abgesperrt und hing an einem Stück Metall, das vorher eine Schlaufe des Drahtseils zusammengehalten hatte. Das Kabel selbst war durchgeschnitten. Fletcher hätte das nicht zu tun brauchen, schließlich hatte er den Schlüssel.
Außer … jemand anders hatte Ashley gerettet?
Nein. Der oder die Betreffende hätte Fletchers Fallen ausgelöst. Es musste Fletcher selbst gewesen sein, der Ashley erst gefoltert und ihr dann den edlen Ritter vorgespielt hatte, erschienen, um sie zu retten. Genau wie sein Vater.
Falls es sich so abgespielt hatte, war Ashley nicht nur weiterhin am Leben, sondern stand zudem tief in seiner Schuld und würde bereit sein, alles zu tun, worum er sie bat.
Die Wendung, die der Fall nahm, gefiel ihr gar nicht. Sie stand auf, schwenkte die Taschenlampe und sah die Umrisse eines tragbaren Nachtstuhls auf der einen Seite und auf der anderen Heuballen, die in Stufen arrangiert waren. Seltsame Formen warfen den starken Strahl der Lampe zurück, dunkel, aber dennoch glänzend. Vorsichtig näherte sie sich den großen Objekten.
Der Verwesungsgeruch wurde stärker – so stark, dass er bei ihr Brechreiz auslöste.
Eingewickelt in transparente Plastikfolie wie drei Mumien, saßen auf den Heuballen zwei Frauen und ein Mann Seite an Seite wie Zuschauer bei einem Spiel der Pittsburgh Steelers. Sie hatten die Münder aufgerissen im Todesgrinsen, ihre Augen quollen hervor, und sie konnten Ashleys Leid aus der ersten Reihe beobachten.
Ihre Füße standen zentimetertief in Körperflüssigkeiten, die von der Plastikfolie am Abfließen gehindert wurden. Keine Fliegen oder sonstigen Insekten hatten die Folie durchdringen können; die Verwesung war allein von den körpereigenen Bakterien in Gang gesetzt worden, die ihren Bauchraum mit Gasen aufgebläht hatten, bis die Eingeweide und die Haut geplatzt waren.
Zum Glück blieb Lucy dieser Anblick erspart, da die Leichen vollständig bekleidet waren. Sie verließ die Scheune.
Mittlerweile war es draußen ebenso dunkel wie drinnen. Walden wartete beim Wagen. Er stand neben der Motorhaube und lief auf sie zu, als sie aus der Scheune trat.
»Alles klar mit Ihnen?«
»Junge, Sie können von Glück reden, dass ich die Ranghöhere bin«, stieß sie hervor und sog die kühle, frische Nachtluft ein, als hätte sie zu lange den Atem angehalten – was nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt war. »Wie stehen Sie eigentlich zu Schlangen?«
Er blickte sie scharf an. »Ich hasse die Viecher.«
»Bis vor kurzem hatte ich nie was gegen sie.« Sie lehnte sich an die Autotür und versuchte zu kaschieren, dass sie plötzlich weiche Knie bekam. »Als Kind habe ich sogar mit ihnen gespielt.« Sie schüttelte den Kopf und schaute zurück auf die Scheune, die sich jetzt nur noch als heller Fleck vor den Bäumen hinter ihr abhob. »Aber die Zeiten sind vorbei.«
»Was zum Teufel war da drinnen denn los?«
***
Es dauerte nicht lange, bis die zuvor einsame, stille Farm in Licht und Lärm getaucht war. Das ganze Gebiet war mit Absperrbändern abgeriegelt, und alle mussten warten, bis die Jungs vom Munitionsräumdienst ihre Sprengstoffspürhunde erst um die Scheune und dann um das Haus geführt hatten. Die Hunde schlugen an beiden Gebäuden an.
Was zur Folge hatte, dass noch mehr Männer und Gerät und Scheinwerfer und knackende Funkgeräte herbeigeschafft wurden. Zwei Mitglieder des Entschärfungskommandos zwängten sich unter derben Witzeleien der Umstehenden in ihre voluminösen Anzüge, und Lucy musste mehr als einmal bei Streitigkeiten zwischen den einzelnen Parteien um Prioritäten und Zuständigkeiten vermitteln.
Die Spurensicherung wollte am Tatort in der Scheune Fotos machen, bevor das Sprengmittelräumkommando nach den Bomben suchte und dabei womöglich Spuren vernichtete.
Die Bombenräumer dagegen wollten ihre Arbeit so schnell wie möglich durchziehen, bevor sie in ihren rund vierzig Kilo schweren Anzügen, in denen in geschlossenem Zustand in null Komma nichts Temperaturen bis zu vierzig Grad erreicht wurden, vor Hitze in Ohnmacht fielen.
Und die Rechtsmediziner bestanden darauf, dass niemand etwas anrührte, bis sie sich die Leichen angesehen hatten – auch wenn die womöglich auf Bomben saßen.
Die Leute von der Staatspolizei murrten darüber, dass die Bombenräumer von
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