Schlangenblut (German Edition)
er ja zum Essen gefahren? Oder zum Bingo?«
»Sehen wir uns mal um.« Sie standen noch immer in der Nähe des Fahrzeugs, das ihnen Deckung bot, gut zehn Meter vom Haus wie von der Scheune entfernt. »Wohin zuerst?«, fragte sie. »Haus oder Scheune?«
Walden zog seine Waffe – ein sicheres Zeichen dafür, dass mit diesem Ort etwas nicht stimmte. Man suchte keine Steuerzahler mit gezogener Waffe auf, selbst dann nicht, wenn sie Verwandte eines Mörders waren. Und man brauchte auch keine geladene Glock Kaliber vierzig, um an die Tür eines leeren Hauses zu klopfen.
»Vielleicht steht in der Scheune ein Fahrzeug«, sagte er, bevor er seine Sonnenbrille abnahm und wartete, bis seine Augen sich an das gespenstische Dämmerlicht gewöhnt hatten. »Falls er hier ist, wartet er womöglich darauf, dass wir zum Haus gehen, um dann abzuhauen.«
Rechne mit dem Schlimmsten, hoffe auf das Beste, und du kommst heil heraus – typische Polizisten-Philosophie. Lucy holte sich ein Fernglas aus dem Heck ihres Wagens. Sie streiften schusssichere Westen über, deren Gewicht an Lucys verletzter Schulter zerrte wie ein Schlachterhaken in einer Rinderhälfte.
Sie mieden die Straße und schlichen durch das kniehohe Unkraut zum Haus. Sie kreisten es vorsichtig ein und überprüften die Veranda und den Vordereingang aus zehn Metern Entfernung.
»Kameras«, sagte sie, als sie durch das Fernglas schaute. »Eine an der Ecke vom Verandadach in Richtung Einfahrt, eine auf dem Pfosten da, gerichtet auf die Stufen vor der Tür. Ich kann nicht reinschauen wegen der Vorhänge.«
»Versuchen wir’s mal von hinten.«
Sie umkreisten weiter das Haus. An allen Fenstern hingen Vorhänge, und es gab offenbar keinen weiteren Eingang, bis sie die Rückseite des Hauses erreichten. Dort standen sie im Schatten, wo Lucy sofort fröstelte und wünschte, sie hätte eine Jacke.
»Was ist das da?«, fragte Walden und zeigte auf mehrere gräuliche Klumpen im Hof.
Lucy wandte den Blick kurz vom Haus ab. »Sie sind ein echtes Stadtkind, was? Das sind Salzlecksteine. Für das Wild.« Sie konzentrierte sich auf die Hintertür. »Warten Sie hier.«
»Was haben Sie vor?«
»Er wird wohl kaum hier draußen Sprengfallen installiert haben – nicht wenn er Wildtiere möglichst nah ans Haus locken will. Vielleicht kann ich ja durch einen Schlitz in den Vorhängen an der Tür einen Blick ins Innere werfen.«
»Womöglich hat ja der Onkel die Salzlecksteine ausgelegt, und Fletcher ist es egal, ob er ein paar Rehe in die Luft jagt.«
Sie ging trotzdem weiter, wenn auch ganz langsam, und sah sich gründlich um. Über der Tür war eine Kamera angebracht, doch die war leicht zu umgehen, wenn sie sich immer im toten Winkel hielt.
Sie drückte sich an die Tür und linste durch den schmalen Spalt in den Vorhängen. »Da drinnen ist es dunkel«, rief sie Walden zu. »Kein Mucks. Ein paar Töpfe und Pfannen stehen herum, im Müll liegen Dosen, viel mehr kann ich nicht –«
Sie hielt inne und versuchte, mehr zu erkennen. An einem Haken neben der Tür hing eine Jacke. Sie sah sie nicht ganz, aber ein Ärmel war hochgekrempelt und stand weit genug ab, um in ihrem Blickfeld zu liegen. Drinnen war es dunkel, aber keineswegs stockfinster.
Die Jacke war schwarz und aus billigem Baumwollstoff, aber etwas fiel ihr sofort ins Auge: die silberne Stickerei am Ärmel. Mit Hilfe des Fernglases erkannte sie das Muster, das die Freiheitsstatue darstellen sollte.
»Ich habe dieses Jackett schon einmal gesehen«, erklärte Lucy Walden, als sie sich langsam vom Haus entfernte, immer außerhalb des Erfassungswinkels der Kamera. »Vera Tzasiris hat eine solche Jacke getragen, als ich sie befragt habe. Das war unmittelbar vor ihrem Verschwinden.«
Sie gab ihm das Fernglas und beugte sich vor, wie um Atem zu holen, doch in Wirklichkeit wollte sie nur für einen Augenblick ihr Gesicht vor Walden verbergen. Sie musste daran denken, wie unbekümmert sie Vera versichert hatte, sie habe das Schlimmste überstanden – unmittelbar bevor sie die junge Frau einem Mörder auslieferte.
»Vera Tzasiris?«
Lucy blinzelte heftig, ignorierte das Brennen ungeweinter Tränen und richtete sich auf, auch wenn sofort wieder der Schmerz in ihre Schulter schoss. »Rufen Sie Taylor an, er soll die Akten der Operation Triple-play herauskramen. Das war ein gemeinsamer Einsatz von Drogenfahndung, ICE und FBI im letzten Jahr. Fletcher war auch daran beteiligt.
Außerdem brauchen wir einen
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