Schlangenblut (German Edition)
verfolgen. Er musste sie retten. Er brauchte sie ebenso sehr wie sie ihn. Wie das eben in einer Familie so war.
Er konzentrierte sich auf die gespenstisch grünen, von der Nachtsichtkamera übertragenen Bilder. Er hatte ihre Schreie gehört. Auf seinen Handflächen waren noch die Abdrücke von Schraubenköpfen sichtbar, so fest hatte er den Rand seines Stuhls umklammert. Ohne jede Scham gestand er sich ein, dass ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung ihn zu Tränen gerührt hatten. Wahre Liebe hatte eben ihren Preis.
Schritt eins. Kontrolle erlangen.
Ashley krabbelte an ihrer kurzen Leine über den Bildschirm. Schritt eins abgeschlossen.
Schritt zwei. Abhängigkeit herstellen.
Durch die Lautsprecherboxen drangen die Geräusche, die Ashley erzeugte, als sie gierig das Wasser schluckte. Er wandte sich ab, um ihre Privatsphäre nicht zu verletzen, als sie den Nachtstuhl benutzte. Schritt zwei abgeschlossen.
Schritt drei. Völlige Desorientierung. Zerstörung der alten Realität.
Er hatte die Scheune schalldicht gemacht und vollständig verdunkelt. Achtundvierzig Stunden, behaupteten sie. Natürlich gab es Möglichkeiten, den Prozess zu beschleunigen. Drogen. Schlafentzug. Dehydrierung. Er wollte sie einsetzen, falls es nicht anders ging, wusste aber, wie zerbrechlich sie war, kannte ihre Schwächen.
Sie hatte ihm bereits alles gebeichtet – wofür sie sich heimlich schämte, wovor sie Angst hatte. Er hatte sie vorbereitet, auch wenn es ihn viel Zeit gekostet hatte. Sie war bereit, war wie Wachs in seinen Händen.
Ein Teil von ihm wollte die Sache beschleunigen, konnte Ashleys Befreiung kaum erwarten. Bald würde er wieder jemanden an seiner Seite haben. Es war nun fast schon drei Jahre her, dass Alicia ihn verlassen hatte und ins Pflegeheim gezogen war. Mit jedem Tag, den er allein verbringen musste, wuchs in ihm das Gefühl, allmählich die Kontrolle zu verlieren.
So sehr, dass er sich an manchen Tagen – besonders nach seinen ersten beiden Fehlschlägen – fragte, ob seine Mutter nicht vielleicht recht hatte.
Ob er nicht besser tot wäre.
Aber jetzt nicht mehr. Jetzt hatte er Ashley, und sie würde ihn retten. So wie er sie.
Wozu hatte man sonst Familie?
Er rieb sich die Stirn und sah zu, wie sie die Arme um sich schlang, als wäre ihr kalt, obwohl in der Scheune bestimmt weit über 30 Grad herrschten. Er wünschte sich, er könnte es ihnen beiden leichter machen.
Denn er wusste, dass sie das Schlimmste noch vor sich hatten.
KAPITEL 9
Samstag, 13.48 Uhr
Burroughs zeigte Ashleys Foto der Kassiererin im Stop N Go – einer kaugummikauenden Frau in den Zwanzigern namens Jalonna. »Klar, die hab ich gesehen«, sagte sie. »Hab ich doch schon den anderen Cops erzählt.«
Unter Guardinos kritischem Blick ging Burroughs weniger forsch vor als gewöhnlich. Sanft und höflich dankte er der wenig hilfreichen Angestellten dafür, dass sie sich Zeit für ihn nahm.
»Die ist reingekommen, hat sich ein Diät-Dr.-Pepper gekauft, ist wieder raus und hat auf den Bus gewartet«, fuhr die junge Frau fort, während ihre Augen und Hände weiter Lotteriescheine sortierten. »Das war gegen eins oder so. Sie ist in den Bus nach East Liberty gestiegen.« Sie hielt inne, als ein Problem beim Sortieren auftauchte. »Das ist alles.«
Burroughs blickte Guardino achselzuckend an und steckte seinen Notizblock ein. »Ein Uhr gestern, Bus nach East Liberty. Vielen Dank.«
Er ging schon in Richtung Tür, als Guardino vortrat. Die Angestellte bemerkte sie zunächst gar nicht, bis Guardinos flache Hand krachend auf dem Stapel mit den Lotteriescheinen landete. »Erzählen Sie mir, was Ihnen sonst noch aufgefallen ist.«
Versuchte Guardino, sich vor ihm zu produzieren? Um ihm zu zeigen, wer hier der Boss war, oder um ihn zu beeindrucken? Jedenfalls fand er ihr Verhalten gegenüber einer willigen Zeugin ziemlich aggressiv.
Die Angestellte zuckte zusammen, trat einen Schritt zurück und stieß gegen das Gitter der Zigarettenauslage. »Nichts. Sonst ist mir gar nichts aufgefallen.«
Guardino ließ von ihr ab, aber nicht, ohne ihr einen wissenden Blick zuzuwerfen. »Von hier drin konnten Sie die Nummer des Busses ganz bestimmt nicht sehen. Sie sind Ashley nach draußen gefolgt. Warum?«
Alle Achtung. Wie hatte er das übersehen können? Die Angestellte blickte ihn hilfesuchend an, aber er kam ihr nicht zu Hilfe.
Dann legte sie den Kopf zur Seite und schaute Guardino aus zusammengekniffenen Augen herausfordernd an, bevor sie
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