Schlangenblut (German Edition)
aber er war ruhig. Wie ein irischer Zen-Lehrer.
»Es wird schon alles gutgehen, Lulu«, sagte er. »Hast du Zeit zum Mittagessen?«
Ein Zen-Lehrer mit doppelt so viel Mutterinstinkt wie sie. »Weiß ich noch nicht. Vielleicht holen wir uns auch bei Mickey D was zu essen.« Sie schaute zu Burroughs hinüber, der zustimmend nickte. Bullen aßen zwar für ihr Leben gern Donuts, aber einen langen Tag, dessen Ende nicht in Sicht war, überstand man nicht ohne Rindfleisch und Fett.
»Für den Fall, dass du dich festfährst, habe ich dir ein kleines Geschenk hinterlassen.«
Sie schaute in ihre Handtasche und fand eine Asservatentüte mit der Aufschrift Nur für Notfälle . Der Beutel enthielt zwei Energieriegel, ein Päckchen Schmerztabletten, Pfefferminzbonbons für frischen Atem und eine Tafel Zartbitterschokolade. Lucy versuchte gar nicht erst, ihr Lächeln zu verbergen. »Habe ich dir eigentlich in letzter Zeit mal gesagt, wie wunderbar du bist?«
»Nein. Aber du kannst es mir ja später zeigen, wenn du nach Hause kommst.«
»Mir fällt gerade noch was ein. Was kannst du mir über Kinder sagen, die sich selbst Verletzungen beibringen?«
Der plötzliche Themenwechsel brachte ihn nicht aus der Fassung. Derart extreme Gedankensprünge war Nick von Lucy gewohnt. »Junge oder Mädchen?«
»Mädchen. Vierzehn. Eltern vor etwa zehn Monaten geschieden, und die Kleine hat wohl Probleme mit ihrem Selbstbild. Trägt schlabbrige Klamotten, schließt sich in ihrem Zimmer ein.«
»Wahrscheinlich wirst du feststellen, dass sie Probleme mit Gleichaltrigen hat, vor allem in der Schule. Oft lässt der Drang, sich zu verletzen, in den Ferien nach und eskaliert wieder nach Schulbeginn. Diese Mädchen sind meist schüchtern, haben ein unterentwickeltes Selbstwertgefühl, sind unfähig, anderen ihre Bedürfnisse mitzuteilen, und gehen deswegen auf Distanz zu ihrer Lebenswirklichkeit. Der Schmerz, den sie sich zufügen, ist der Versuch, sich wieder in den Griff zu bekommen, wieder etwas zu fühlen.«
»Das scheint ziemlich gut auf unser Mädchen zu passen. Danke, Schatz.«
»Gern geschehen. Ich weiß, du kommst wahrscheinlich nicht zum Abendessen, aber versuchst du wenigstens, morgen zur Messe zu kommen? Megans Religionsklasse macht da mit.«
Lucy schnitt eine Grimasse. Verdammt, wie hatte sie das nur vergessen können? »Morgen kommen die Kanadier.«
Nick gab keinen Laut von sich. Das war auch nicht nötig.
Ihr Seufzen hallte im Telefon wider. »Aber wir treffen uns erst nachmittags. Das müsste zu schaffen sein. Falls sie sich überhaupt wohl genug fühlt, um da hinzugehen.«
Sie hasste sich selbst dafür, dass sie Megans Halsschmerzen als Ausrede benutzte, aber Nick durchschaute es sowieso.
»Soll ich ihr das so sagen?« Nick versprach nie etwas, das er nicht halten konnte. So gelang es ihm, seinen Heiligenschein immer schön am Leuchten zu halten.
Lucy wünschte, sie könnte da mithalten, und versuchte, dem Ganzen einen positiven Dreh zu geben. »Nein. Ich möchte sie lieber überraschen.«
Sie machte Schluss und steckte das Handy wieder in ihren Gürtel. Burroughs beobachtete sie mit einem Funkeln in den Augen.
»Denken Sie jetzt bitte nicht, dass ich Sie anbaggern wollte«, sagte er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr vor ihnen.
Er war ein durchschnittlich großer, aber überdurchschnittlich attraktiver Mann – nicht zu attraktiv, aber auch nicht zu unscheinbar –, und seine Körpersprache war eindeutig die eines Alpha-Männchens. Die Art, wie er sie einen Tick zu lang anstarrte, ein wenig zu dicht bei ihr stand.
Aber Alpha-Männchen oder nicht – Burroughs war einfach nicht ihr Typ. Ihr Typ – der einzige Mann, an dem sie interessiert war – verwöhnte sie, indem er ihr den Nacken massierte, die Wäsche wusch und ihr Zartbitterschokolade schenkte. Ihr Typ brauchte sie nicht machohaft anzugrinsen, damit sie weiche Knie bekam. Er musste nur ins Zimmer kommen, ihren Namen sagen oder sie mit einem Blick streifen.
Zwar hatte Nick auch jede Menge Fehler und sich nach vierzehn Ehejahren noch immer nicht angewöhnt, den Klodeckel herunterzuklappen oder die Fernbedienung aus der Hand zu legen. Außerdem hatte er die irritierende Angewohnheit, immer vernünftig zu bleiben, wenn sie es vorgezogen hätte, einen Kampf bis zum bitteren Ende auszufechten, auch wenn das bedeutete, sich emotional vollkommen zu verausgaben.
Wobei sie in letzter Zeit offensichtlich beide nicht mehr die Kraft zum Kämpfen
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