Schlangenblut (German Edition)
Gebetskreis gekommen.
»Wo ist Henry?«
»Pastor Henry erwartet uns unten. Er bereitet alles für Katies Besuch vor.« Bei der Erwähnung von Katies Namen bebte seine Stimme leicht. Lucy entspannte sich ein kleines bisschen, ermutigt durch den Riss in der Fassade. »Wo ist das Kind?«
»Katie schläft im Wagen. Ich habe den Motor laufen lassen. Ohne Klimaanlage ist es da drinnen zu heiß.«
Er nickte zustimmend. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich einen kurzen Blick auf sie werfe?«
»Natürlich nicht. Deswegen sind wir ja hier. Aber wecken Sie sie nicht auf – ich möchte, dass sie ausgeschlafen ist, wenn Sie und Henry bereit sind.«
Seine Zunge schoss vor und schnellte kurz gegen seine Oberlippe, bevor sie wieder verschwand. Er ging an ihr vorbei, sein Gang ganz steif vor freudiger Erwartung, und linste durch das Fahrzeugfenster zu Katie hinein. »Mein Gott, sie ist in Wirklichkeit ja noch schöner. Sie müssen mächtig stolz auf sie sein.«
Er ging zurück zu Lucy und öffnete die Kirchentür. Der Mittelfinger seiner rechten Hand fehlte, seine Handfläche war von Narbengewebe bedeckt. Hatte er mit Feuerwerkskörpern gespielt? Oder mit etwas noch Gefährlicherem?
»Wollen wir reingehen und unsere Vorbereitungen abschließen?«
Sie trat über die Schwelle und spielte an ihrer Halskette herum, während sie sich umsah. Der etwa sechs auf neun Meter große Raum hatte weiß getünchte Wände, einen weißen Linoleumboden und eine weiße Decke. Für etwas Farbe sorgten nur ein Stapel grauer Klappstühle an der einen Wand sowie ein dunkles Holzkreuz, das am hinteren Ende des Raums von der Decke hing. Rechts führte eine Betontreppe nach unten. Walter wandte sich dorthin.
Lucy versuchte, Zeit zu schinden. »Was für eine Art Kirche ist das?«
Er blieb auf der obersten Stufe stehen und drehte sich zu ihr um. »Wir gehören zu den Pfingstkirchlern. Eine kleine Glaubensgemeinschaft, aber sehr aktiv im Anwerben neuer Mitglieder.« Er folgte ihrem Blick, während sie sich im leeren Raum umsah. »Wir sitzen nicht viel bei unseren Gottesdiensten. Nicht sobald sich der Herr in uns bewegt.«
Sie musste sich anstrengen, ihr innerliches Zusammenzucken zu verbergen. Zwei Männer, die sich auf einen privaten Besuch eines vierjährigen Mädchens in einem Gotteshaus vorbereiteten, und Walter tat so, als wäre das vollkommen akzeptabel. Lucy hatte schon mit ziemlich verrückten Typen zu tun gehabt, sich aber noch nie derart geekelt. Sie wischte den Gedanken ebenso beiseite wie die damit verbundenen Gefühle. Die Aufgabe, die sie zu erledigen hatte, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Sie folgte Walter die Treppe hinab. Jeder Schritt ließ sie innerlich vibrieren, erschütterte sie bis ins Mark, entfesselte ihre Angst.
Ihr Vater hatte einmal erklärt, es gebe nur zwei wahre Gefühle: Angst und Liebe. In Augenblicken wie diesem verfolgten seine Worte sie. Lucy liebte ihre Familie und lebte in ständiger Angst, sie nicht beschützen zu können.
Doch diese Angst sollte sie nicht davon abhalten, das zu erreichen, weswegen sie gekommen war. Sie hoffte, dass jemand dasselbe für ihr eigenes Kind tun würde, falls Megan einmal Hilfe brauchte.
Der kalte Geruch nach Erde, Schimmel und rostendem Eisen stieg ihr in die Nase. Der scharfe, widerwärtige Gestank nach schmutzigen, nassen Socken, die zu lange in einem Wäschekorb gelegen hatten.
Unten angelangt, traf sie auf eine schwere Holztür mit Angeln, die so dick waren wie ihre Faust. An der Mauer neben der Tür zogen sich Rohre entlang, die zur Außenwand und zum dahinter fließenden Bach führten. Walter wuchtete die Tür auf und forderte sie mit einer Geste auf vorauszugehen.
Gleich hinter der Tür blieb sie erneut stehen und sah sich um. Sie befand sich in einem Vorraum, der etwa halb so groß war wie der Raum über ihnen und spärlich erhellt von ein paar verdreckten Fenstern aus Glasbausteinen hoch oben in der gegenüberliegenden Wand. Rohre unterschiedlicher Größe mit zahlreichen Absperrventilen zogen sich über die Wand neben ihr und mündeten in ein rund zweieinhalb mal drei Meter großes rechteckiges Becken im Boden. Hier roch es noch schlimmer – so, als kämen Kleintiere in die dunklen, feuchten Ecken gekrabbelt, um dort zu verenden.
Sie konnte die Tiefe des Beckens nicht abschätzen. War es zur Überprüfung des Wassers gedacht gewesen? Für Taufen nutzte man es ja wohl kaum; die Wand, die sie sehen konnte, war schleimig von Algen, doch auf dem Boden
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