Schlangenhaus - Thriller
Augen hatten fast etwas Menschliches. Sie sah aus, als setze sie zum Sprung an. Zu meiner Linken hockte ein Löwe mit ausgebreiteten Schwingen, bereit, sich in die Lüfte zu erheben. Rechts von mir eine gehörnte Bestie, düster grübelnd, das Kinn auf die beinahe menschlichen Arme gestützt. Hinter mir, viel zu nahe, kauerte etwas anderes. Ich konnte es nicht genau sehen, doch ich trat instinktiv vor, fort von diesem Wesen. Alle vier Wesen schienen wachsam zu sein – und gierig.
War Ulfred hier wirklich ganz allein zurückgelassen worden? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie das wohl gewesen sein musste; zuzusehen, wie sich die Dunkelheit herabsenkte, wie die Schatten länger wurden, und zu wissen, dass diese abstoßenden Steinbilder während der langen Nacht die einzigen Gefährten sein würden. Und ich fragte mich, wie lange es wohl gedauert hatte, bis die Statuen sich allmählich geregt, zu ihm gesprochen hatten. Wann dem ohnehin bereits verhaltensgestörten Ulfred jegliche Realität vollends entglitten war.
Mein Taschenlampenstrahl fing etwas ein, und ich trat abermals vor. An der Wand, fast in der Ecke, lag ein schlichtes hölzernes Gebilde, zwei Holzstücke, im rechten Winkel aneinandergefügt. Eins der einfachsten, bekanntesten Symbole überhaupt: das Kruzifix.
Das Kreuz Christi hatte über meiner Wiege gehangen, als ich ein Baby war. Für mich repräsentierte es alles, was in meinem Leben gut und sicher war. Es hier zu sehen, in diesem Raum, mit diesem grauenvollen Möbelstück … Es war widerwärtig.
Ich konnte nicht bleiben.
Als ich den Glockenboden verließ, sah ich, dass auf dem Stuhl so gut wie nichts von dem feinen weißen Staub lag, der den Rest des Raumes bedeckte. Als hätte vor nicht allzu langer Zeit jemand darauf gesessen. Und als ich nach unten schaute, sah ich, dass der Staub am Boden aufgewirbelt worden war, von anderen Schritten als den meinen.
Ich machte mich daran, die Treppe wieder hinunterzuklettern, dann jedoch, einem plötzlichen Impuls folgend, stieg ich die letzten fünf Stufen hinauf und stieß die kleine, unverschlossene Tür auf, die zur Brüstung des Turms führte. Der Wind schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht, drückte die Tür zurück, versuchte, mich wieder hineinzudrängen, doch ich stemmte mich dagegen und stand zwanzig Meter über dem Dorf.
Dunkle Wolken jagten über den Himmel, und tief unter mir mühten sich ihre Schatten, Schritt zu halten. Kilometerweit entfernt konnte ich den orangegelben Schein von Straßenlaternen ausmachen, und die Scheinwerfer von Autos, die sich zwischen ihnen hindurchwanden. Das Dorf lag in Dunkelheit, abgesehen von der einen oder anderen Verandalampe oder dem sanften Schimmer hinter zugezogenen Vorhängen. Alles war ruhig, nichts regte sich – außer dem dünnen Lichtstrahl, der langsam durch eine Wiese in der Nähe des Dorfangers glitt.
Ich schloss die Sakristei ab und legte den Schlüssel wieder dorthin, wo ich ihn gefunden hatte. Als ich aus dem Vorraum der Kirche kam und auf den Weg hinaustrat, hielt ich hastig inne. Drei Gestalten – ich erkannte sie sofort als Mitglieder der Keech-Gang – standen am Ende des Weges und versperrten mir den Heimweg. Sie hatten mich nicht gesehen, doch das war nur eine Frage von Sekunden. Ich eilte denselben Weg zurück, den ich gekommen war, rannte über den Kirchhof und kletterte über die Friedhofsmauer.
Jetzt war ich ganz in der Nähe von Clive Ventrys Haus, befand mich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf seinem Grund und Boden. Ich wollte um sein Grundstück herumgehen und mich dem Dorfanger aus der anderen Richtung nähern. Bis dahin war die Gang vielleicht weitergezogen. Oder ich könnte mich an ihr vorbeischleichen.
Da es bergab ging, kam ich schnell voran und war bald auf der Wiese hinter dem Gutshaus. Ich hielt mich dicht an der Hecke und hatte fast fünfzig Meter zurückgelegt, als ich abermals Stimmen hörte. War ich entdeckt worden? Waren sie mir hier herunter gefolgt? Ich hielt an und duckte mich. Die Hecke, die sich im rechten Winkel zu jener, an der ich entlangschlich, über die Wiese zog, raschelte und bewegte sich. Ein von seinem Nest aufgescheuchter Vogel flog davon, ohne zu protestieren. Eine große Gestalt zwängte sich durch die Hecke, dann eine zweite, kleiner und stämmiger.
Sie waren zu weit weg, als dass ich genau hätte erkennen können, wer sie waren. Es konnten ohne Weiteres zwei der Keech-Brüder sein. In Anbetracht der Tatsache, dass ich gerade
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