Schlangenhaus - Thriller
hatte Percys Arm losgelassen.
»Kurz danach haben wir von dem Pfarramt in Amerika gehört,
das wir angeschrieben hatten«, fuhr der Reverend fort. »Inzwischen war es natürlich zu spät.«
»Was haben sie gesagt?«
»Eine schockierende Geschichte. Joel Fain hat 1956 vor Gericht gestanden, weil er seinen Vater ermordet hat. Anscheinend hat der alte Fain seinen Sohn, damals bereits ordinierter Geistlicher, auf dem Friedhof angetroffen. Er und andere Mitglieder seiner Kirche hatten ein frisches Grab exhumiert. Damals war nicht klar, was sie tun wollten. Oder zumindest versuchen wollten. Der Vater hat die Beherrschung verloren, ist auf seinen Sohn losgegangen, hat ihn zu Hause eingeschlossen. Dann ist der Vater verschwunden. Nach einer Woche wurde er gefunden, eingesperrt in einer Hütte im Wald.«
»Tot?«, fragte ich.
»O ja. Er war mit einer Klapperschlange in der Hütte eingeschlossen worden; er hat mehrere Tage zum Sterben gebraucht.«
»Und Fain wurde vor Gericht gestellt?«
»Er hat darauf bestanden, sich selbst zu verteidigen. Das war damals ein ziemlicher Sensationsprozess. Er hat sich immer wieder auf Cicero berufen, den berühmten römischen Anwalt, und auf dessen ersten Prozess, bei dem er einen jungen Mann verteidigt hat, dem dasselbe Verbrechen zur Last gelegt wurde.«
»Seinen Vater getötet zu haben?«
»Genau. Fain hat sich allem Anschein nach für einen gelehrten Philosophen gehalten. Jedenfalls hat seine Mutter ihrerseits Anwälte engagiert und versucht, das Gericht davon zu überzeugen, dass ihr Sohn verrückt war. Wäre er schuldig gesprochen, so wäre er zum Tode verurteilt worden. Auf Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit zu plädieren, hat sie vielleicht für die einzige Möglichkeit gehalten, ihn zu retten. Damit muss sie Erfolg gehabt haben, denn er wurde in eine Klinik verlegt, und dann ist er geflohen. Die Leute haben geglaubt, sie hätte ihm dabei geholfen, dass sie ihn irgendwo
versteckt halten würde. Das hat sie nicht getan, wie wir mittlerweile wussten, obwohl sie ihm möglicherweise geholfen hat, sich nach England abzusetzen.«
Fain hatte seinen eigenen Vater umgebracht. Und so ein Mann hatte über eine ganze Kirchengemeinde geherrscht.
»Hätten wir das doch nur früher gewusst«, meinte Percy, »dann hätten wir vielleicht die drei Männer retten können, die zusammen mit Fain umgekommen sind. Obwohl es in Ulfreds Fall vielleicht so am besten war. Er brauchte die Hilfe eines Spezialisten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Das ergibt trotzdem keinen Sinn.« Wir waren wieder auf dem Parkplatz. Ich blieb stehen und drehte mich zu dem alten Kirchenmann um.
»Walter ist noch am Leben«, sagte ich.
Percy sah mich verblüfft an.
»Doch, er lebt noch«, beharrte ich. »Ich habe ihn heute Vormittag besucht. Er hat mir erzählt, Ulfred wäre in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden – das passt also wohl zu dem, was Sie mir gerade erzählt haben –, aber ich bin dort hingefahren, und es gab keinerlei Belege dafür, dass jemals ein Ulfred Witcher in der Anstalt aufgenommen worden wäre. Sie sind bis 1958 zurückgegangen, sie waren sehr gründlich. Absolut keine Spur von ihm.«
Percy sah auf geradezu ärgerliche Weise ungerührt aus. »Nun ja, natürlich nicht. Aber er war trotzdem da. Am Anfang habe ich ihn selbst besucht.«
»Ich verstehe –«
»Ulfreds Nachname war Dodwell. Er war nicht Walters Bruder. Er war der Bruder von Edeline.«
45
»Dodwell? Fred Dodwell? Meinen Sie den?«
Fred? Ulfred? Das musste es sein. Es hatte keinen Sinn, ich konnte mich beim Fahren einfach nicht konzentrieren. Ich fuhr an den Straßenrand.
»Ja, ich glaube schon«, antwortete ich, während ich den Motor ausschaltete. »Es tut mir so leid, dass ich Ihnen heute Vormittag unnötig Mühe gemacht habe. Ich hatte die Verwandtschaften vollkommen durcheinandergebracht. Also, kennen Sie Fred Dodwell?«
»Natürlich. Wenn Sie vorhin den richtigen Namen parat gehabt hätten, wäre mir sofort klar gewesen, wen Sie meinen. Wir alle hätten Bescheid gewusst. Fred war schon vor uns allen hier, seit Anfang der Sechziger, glaube ich, vielleicht sogar …«
»Seit 1958?«, fragte ich leise.
»Könnte sein«, stimmte sie zu.
»Und, ist er immer noch bei Ihnen? Ist er noch …« Ich brachte es kaum über mich, die Worte auszusprechen. Unwillkürlich ertappte ich mich dabei, wie ich stumm betete, sie möge mir sagen, dass Ulfred vor ein paar Jahren sanft und still entschlafen war.
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