Schlangenhaus - Thriller
Weißdornbüsche, Ahornschösslinge und junge Eichen zu den Haselsträuchern gesellten. Die größeren Exemplare streiften einander über dem Pfad, bildeten einen blassgrünen Baldachin und verdunkelten, was vom Tageslicht noch übrig war. Was auch der Grund dafür war, dass ich den scharfkantigen Feuerstein inmitten kleinerer, verstreuter
Steinchen nicht bemerkte. Ich trat darauf, rutschte aus und fiel hin.
Eine Sekunde lang spürte ich nur den stechenden Schmerz in meinem Fuß und Knöchel. Dann stemmte ich mich hoch und humpelte ein paar Schritte vorwärts. Ich befand mich am Tor des Grundstücks, das den Witchers gehörte. Schwer lehnte ich mich dagegen und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ.
Das Haus der Witchers war alt. Vor dreihundert Jahren, vielleicht auch früher, war es als Wohnstatt für Arbeiter erbaut worden, die sich auf dem nahe gelegenen Ashlyne Estate verdingten. Ursprünglich waren hier vier Arbeitercottages gewesen, jeweils mit zwei Zimmern oben und zwei unten. Irgendwann im Laufe der Jahre waren die Trennwände herausgerissen worden, und aus vier kleinen Cottages war ein großes Haus geworden. Es stand jetzt schon seit Monaten leer.
Der ehemals wunderschöne Garten war seit dem letzten Sommer nicht mehr angerührt worden, doch die Natur ist wunderbar hartnäckig, und selbst ohne Pflege erwachte der Garten wieder zum Leben. Vom Fuß der Apfelbäume wehte der verführerische Duft winziger Lilien zu mir herüber. Ich schloss die Augen und bemühte mich, meinen schmerzhaft pochenden Knöchel nicht zu beachten. Nach ein paar Minuten atmete ich wieder normal und aus dem stechenden Schmerz war ein dumpfes Ziehen geworden. Wahrscheinlich nur verstaucht. Ich öffnete die Augen. Und erblickte Walter Witcher, der mich von einem Fenster im Obergeschoss aus ansah.
Vollkommen unmöglich.
Und doch, dort war er, am Fenster im ersten Stock, dem dritten von links. Walter: schmächtige Statur, dünnes graues Haar, helle Augen, weiche Hängebacken und dunkle Schatten unter den Augen, die stoppeligen Überreste eines weißen Bartes. Und wissen Sie was? Ich spürte, wie sich mein Arm im Ellenbogengelenk beugte, sich anschickte, zu winken.
Denn Walter war aus irgendeinem Grunde, der sich mir nie
ganz erschlossen hatte, der einzige Mensch im Dorf gewesen, in dessen Nähe ich mich auch nur annähernd wohlgefühlt hatte. Vielleicht spürte ich, dass auch er seinesgleichen nach Möglichkeit mied.
Ganz bestimmt stand ihm der Sinn nicht mehr nach müßigem Geplauder als mir, doch er war stets höflich. Ich pflegte den Zeitpunkt für meine frühmorgendlichen oder spätabendlichen Lauftouren so zu wählen, dass Kontakte mit anderen auf ein Minimum begrenzt waren, und doch machte es mir niemals etwas aus, Walter zu begegnen.
Er war so ein liebenswerter, sanftmütiger Mann gewesen.
Einmal hatte er ein verletztes Kaninchen in die Klinik gebracht. Es hatte sich in einem Netz in seinem Garten verfangen. Ich hatte das Kaninchen wieder hingekriegt, und wir beide hatten es zwei Wochen später am Fluss freigelassen.
Walter hatte mir immer direkt in die Augen gesehen.
Als ich an jenem Abend, an dem wir das Kaninchen freigelassen hatten, nach Hause gekommen war, hatte ich ein Dutzend rosafarbene Dahlien auf meiner Türschwelle vorgefunden. Es war kein Zettel dabei gewesen, doch ich wusste ganz genau, in welchem Garten rosa Dahlien wuchsen. Jetzt stand ich davor und hätte die grünen Triebe sehen können, wäre ich fähig gewesen, den Blick zu senken, doch natürlich konnte ich das nicht. Ich konnte die Augen nicht von dem Gesicht am Fenster abwenden, dem Gesicht eines Mannes, der vor acht Monaten gestorben war.
Ein Ruf hinter mir ließ mich zusammenzucken und herumfahren. Dann schaute ich wieder hin, und das Fenster war leer. Das Gesicht … Walter … war fort.
Ich suchte mit dem Blick die anderen Fenster ab. Alle leer. Ein großes, schweres Vorhängeschloss hielt eine Kette um das Tor zusammen. Dieses Tor war hoch, knapp zwei Meter, mit Stacheln obendrauf. Wahrscheinlich konnte man darüberklettern, aber nicht ohne Mühe, und ganz bestimmt würde ein
Mann Ende siebzig das nicht fertigbringen. Die Hecke zu beiden Seiten des Tores war hoch und dicht.
Aus dieser Entfernung sah die Haustür durchaus stabil aus. Alle Fenster im Erdgeschoss waren mit Holzplatten vernagelt. Nichts deutete darauf hin, dass irgendjemand das Haus betreten haben könnte. Am allerwenigsten Walter.
Wieder rief jemand. Die Stimme einer
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