Schlangenhaus - Thriller
haben, die Wände durchzubrechen. War ja nicht so, als hätten wir nicht alle gewusst, was da vorgegangen ist.«
»Wie bitte?«
»Das waren schlimme Jungs, wirklich. Freche, schlimme Jungs. Alle außer Walter.« Jetzt sah sie mich wieder an, mit ihren wässrigen blauen Augen. »Walter hat uns allen sehr leidgetan«, fuhr sie fort. »Er hat immer Dahlien gepflanzt, wunderschöne
Blumen, alle Farben, die man sich nur denken kann. Einmal habe ich sie bewundert, als er im Garten gearbeitet hat, und dann, am nächsten Morgen, lag ein großer Strauß auf meiner Türschwelle. Ein freundlicher Mann.«
»Ja, das stimmt. Violet, wissen Sie noch, wann er gestorben ist?«
»Walter ist gestorben?« Ihr Gesicht verzog sich erschrocken.
Es war hoffnungslos. Violet wusste kaum noch, was vor einer Stunde passiert war. Ich nickte. »Vor ein paar Monaten. Ich kann mich nicht an die Beerdigung erinnern. Ich habe überlegt …«
»Harry ist gestorben. Harry hat sich eines Abends betrunken. Er hat sich andauernd betrunken. Er ist auf den Eisenbahnschienen nach Hause gegangen und von einem Zug überfahren worden.«
Wer in aller Welt war Harry? Violets Ehemann? Aber hatte sie nicht gesagt, sein Name sei Jim gewesen?
»An Edelines Begräbnis erinnere ich mich«, versuchte ich es noch einmal. »Letzten November, nicht wahr?« Beim Gedanken an Edelines Tod verspürte ich noch immer Gewissensbisse. Sie war allein in ihrem Haus gestorben, an Herzversagen aufgrund einer chronischen Lungenentzündung, und war schon vier Tage tot gewesen, als der Briefträger den Sozialdienst alarmiert hatte. Und da behaupten die Leute, kleine Dörfer wären Orte der Fürsorglichkeit. Ich schaute mich um und sah wenig Anzeichen dafür, dass irgendjemand für Violet sorgte. War es ihr bestimmt, genauso zu enden wie Edeline?
»Edeline.« Violet schüttelte den Kopf, und ich wartete, dass sie weitersprach. Ihre geschürzten Lippen machten deutlich, dass sie nicht viel von Edeline gehalten hatte.
»Dreist wie ein Flittchen, genau das war sie, in ihren engen Kleidern, und den Busen für alle Welt zur Schau gestellt.« Violet beugte sich vor, als wären andere in der Nähe, die uns hören könnten. »Ronnie Gates war damals Postamtsvorsteher, hat immer schon in aller Frühe ausgetragen, damit er seine
Runden hinter sich hatte. Hat gesagt, er hätte nie gewusst, aus welchem Cottage sie morgens rauskommen würde. Sogar Archie, und dabei war der doch in der Kirche!«
Archie? Harry? Violet plapperte sinnloses Zeug. Und dieses Gerede von der Vergangenheit regte sie auf. Ich versuchte, sie zu unterbrechen, doch sie war mächtig in Fahrt.
»In der Kirche aufzustehen und loszuschwafeln, macht einen nicht zu einem guten Menschen«, verkündete sie. »Er war ein – wie sagt man noch? – ein Laienprediger. Hat immer Gottesdienste abgehalten, als wir keinen Pfarrer hatten. Bis er auch weggegangen ist. Ist nach Amerika gegangen, hat es geheißen. 1958 war das, in dem Jahr, wo Jim und ich geheiratet haben. Wir mussten in die Nachbargemeinde fahren, wo die Kirche doch kaputt war und all das.«
Diese Unterhaltung lief mir in rasantem Tempo davon. Doch die Erwähnung der Kirche ließ mich aufhorchen. »In der Kirche hat es schlimm gebrannt, nicht wahr? Jedenfalls habe ich das immer angenommen«, sagte ich. Ich war ein paar Mal dort vorbeigelaufen. Man kann das verkohlte Gebälk noch sehen. »Ist das damals passiert, 1958?«
Violet schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, mich nach diesem Abend zu fragen, Liebes. Die Leute, die dabei waren, haben nicht darüber gesprochen. Nicht einmal Ruby, und die war meine beste Freundin.« Sie hielt inne und gähnte. Ich stand auf.
»Violet, ich lasse Sie jetzt lieber …«
»Und es heißt, die Schlangen sind alle gestorben. Haben den kalten Winter nicht überlebt.«
Ich hatte sie nicht richtig verstanden. Ich hatte Schlangen im Kopf, das war alles.
»Als wir von John und dem Baby gehört haben, da haben wir gedacht, o nein, nicht schon wieder.«
Ich trat einen Schritt näher und setzte mich dann wieder hin. »Violet, was haben Sie da gerade gesagt?«, fragte ich so behutsam, wie ich nur konnte. »Schlangen?«
Violet sah mich an, konnte sich jedoch nicht richtig auf mein Gesicht konzentrieren. Dann stieß sie einen gewaltigen Seufzer aus und die Augen fielen ihr zu.
»Violet.« Ich beugte mich zu ihr vor und berührte vorsichtig ihren Arm. Sie seufzte abermals, ohne die Lider zu öffnen. Ich konnte sehen, dass sie sanft und
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