Schlangenhaus - Thriller
stetig atmete, und begriff, dass sie eingeschlafen war. Leise erhob ich mich und wandte mich zum Gehen. Ich hatte gerade die Tür geöffnet, als ihre Stimme mich aufschreckte.
»Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert, Liebes?«
Ich drehte mich um. Violets Augen waren wieder offen, und sie sah mich unverwandt an.
»Ein Unfall«, antwortete ich nach einer Weile. »Vor langer Zeit. Ich war noch ein Baby.«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Und dabei sind Sie doch so hübsch.«
Ich starrte zurück. Noch nie hatte mich jemand als hübsch bezeichnet. Das war ein Witz, nicht wahr? Nur dass Violet nicht lachte. Und ich auch nicht. Niemand lachte.
»Das, was innen drin ist, das ist es, was zählt, Liebes«, sagte sie, während ihre Lider langsam abermals schwer wurden.
Ich ging den dunklen Flur entlang und verließ das Haus, ließ das Türschloss leise hinter mir einschnappen. »Das sage ich mir auch«, flüsterte ich, als ich dort auf ihrer Schwelle stand.
18
Ich habe Friedhöfe schon immer schön gefunden, besonders die älteren. Mir gefällt die willkürliche Anordnung alter Grabsteine, die wie Kiesel im Gras verteilt sind. Ich lese gern die eingemeißelten Gedenkworte, denke an anständig verbrachte Leben, an alte Menschen, die in ihrem achten oder neunten Lebensjahrzehnt im Sterben liegen, überlebt von Kindern, Enkeln, sogar Urenkeln, um schmerzlich vermisst und in liebevoller Erinnerung behalten zu werden.
Oh, ich weiß, dass ein Friedhof auch einen gehörigen Anteil an traurigen Geschichten zu bieten hat, dass es immer Menschen geben wird, die durch Unglücksfälle oder Krankheit vor ihrer Zeit dahingerafft werden. Im Allgemeinen jedoch finde ich die Zeichen der Liebe tröstlich, die an diesen Orten wie Müll überall verstreut sind: die Vasen mit vertrockneten Blumenstängeln, der Weihnachtsschmuck, der im Winter dort auftaucht.
Dank des Berufs meines Vaters bin ich als Kind ziemlich oft in die Kirche gegangen. Am liebsten habe ich mich aber auf dem Kirchhof herumgedrückt und mir die Eiben und Holunderbüsche angeschaut, die die Kirche umgeben. Und die Blumen, die dort wachsen: Veilchen und Schlüsselblumen zu Beginn des Frühlings, gefolgt von Glockenblumen und Fingerhut, wenn es wärmer wird. Und ganz besonders die winzigen, scheuen Vergissmeinnicht, die so oft und so passend auf Friedhöfen wachsen. Ich glaube, Vergissmeinnicht sind mir von allen Blumen Englands die liebsten. Mum und Vanessa, die sich mehr für die Buntglasfenster und die Holzschnitzereien im Innern der Kirchen interessierten, pflegten die Köpfe zu schütteln und mich Clara Querkopf zu nennen. Doch ich konnte nicht anders: Friedhöfe gefielen mir einfach.
Warum also gefiel mir dieser hier nicht?
Ich laufe bestimmt ein paar Mal in der Woche an der alten Dorfkirche St. Birinus vorbei, bisher jedoch hatte ich noch nie das Tor aufgestoßen und den von hohen Mauern umgebenen Kirchhof betreten. Jetzt, da ich einen Schritt durch dieses Tor getan hatte, still dastand und mich umblickte, glaubte ich zu verstehen, warum. Selbst aus der Ferne waren die zerstörte Kirche und der lange vernachlässigte Friedhof wenig reizvoll; aus der Nähe hatte dieser Ort etwas eindeutig Ungemütliches.
Als ich weiterging, ragten die skelettartigen Überreste der Kirche – verfallene Steinbögen und geschwärztes Gebälk – hoch über mir auf. Ich konnte winzige Bewegungen zwischen den Dachbalken ausmachen und wusste, dass in diesem Gebäude eine Fledermauskolonie hauste. Und dass die Tiere schon wach waren.
Eine Allee aus alten Linden säumte den Weg, mit dunklen, schmierigen Blättern und altersknorrigen Stämmen, von eingeritzten Obszönitäten verunziert, die Generationen von Dorfjugendlichen dort hinterlassen hatten. Einst hatte die Kirche zwei schwere hölzerne Türflügel gehabt. Einer davon war verschwunden, der andere hing lose im Türrahmen. Bei starkem Wind würde er hin und her schwingen und knarren, und einen Moment lang war ich dankbar, dass ich die Kirche an einen windstillen Abend aufgesucht hatte.
Eine hohe, schwarze Steinmauer, von Efeu und Flechten überwuchert, umgab den Kirchhof, und entlang ihrer Innenseite wuchsen alte Eibenbäume. Draußen, dicht an der Mauer, waren viel größere Bäume gepflanzt worden, hauptsächlich Buchen, mit ein paar Walnussbäumen dazwischen. Sie sorgten dafür, dass der Friedhof dunkler war, als es normalerweise der Fall gewesen wäre, selbst so spät am Abend, und verstellten den Blick auf die
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