Schlangenkopf
gab auch keine Ratten dort, wovon hätten die Ratten leben sollen?« Er wirft einen Blick zu Berndorf, ob der ihm auch zuhört, und lächelt schief.
»Einmal bin ich nachts aufgewacht und hab mit der Hand an der Schlafstelle entlanggetastet, da war ein Balken, das Holz war nicht richtig gehobelt, und ich habe einen Span erwischt und ihn vorsichtig vom Balken abgezogen, und dabei war ich plötzlich ganz sicher, dass man Holz essen kann, warum auch nicht? Das ist doch aus der Natur gewachsen wie andere Nahrung auch, ich weiß noch, wie ich mir den Span in den Mund gesteckt habe. Noch heute spüre ich, wie sich das angefühlt hat, und wie ich gedacht hab, jetzt ist alles gut, jetzt hab ich etwas zu essen …«
Ein noch junger Mann kommt in den Speisewagen, Gelhaarfrisur, Nadelstreifenanzug, weißer Seidenschal im offenen Hemd, Kamelhaarmantel über den Schultern, und setzt sich zwei Tischchen weiter auf die andere Fensterseite. Anzug und Mantel sehen nach Erster Klasse aus, aber der Mann kommt aus der Zweiten Klasse. Zlatans Augen folgen ihm, aber dieser nimmt keine Notiz von ihm oder von Berndorf. Zlatans Blick kehrt wieder zu Berndorf zurück.
»Verstehen Sie«, fragt er, »warum ich mir diesen einen Chaplin-Film nicht anschauen kann?«
Berndorf murmelt etwas in der Art, dass er das sehr gut verstehe.
»Aber ich glaube, Sie wollten wissen, wie dieses Foto zustande gekommen ist. Das Problem ist nur, ich erinnere mich fast gar nicht mehr. Es war heiß, ich lag in der Baracke, wollte nicht mehr, überhaupt nichts mehr wollte ich, nur dass man mich da liegen lässt und dass ein Ende ist. Irgendwann kam ein Kumpel und sagte, es seien Ausländer gekommen und wollten uns sehen, und vielleicht könnten wir Brot von ihnen bekommen. Ich glaube, er hat mich hochgezogen, und ich wollte noch mein Hemd anziehen, und er sagte, nein, du gehst so, und so sind wir von der Baracke runter zum Zaun, wo diese Ausländer in ihren Anzügen standen, Strohhüte auf dem Kopf, und unter den Ausländern dieser eine Mensch, den wir am meisten gefürchtet haben, dieser Mesic, und ich habe Angst bekommen.« Plötzlich beugt er sich vor und fährt halblaut fort: »Wissen Sie, wer dieser Mesic ist? General Jovan Mesic?«
»Mesic?«, fragt Berndorf zurück. »Hätte er nicht in Den Haag vor Gericht gestellt werden sollen?«
»Er ist ein Held. Helden stellt man nicht vor Gericht. Und was General Jovan Mesic angeht, der ist in einem Kloster untergekommen. So stand es in der Zeitung.«
»Sie waren also an diesem Zaun«, sagt Berndorf. »Und Ihnen gegenüber standen dieser General und diese Ausländer – waren es nicht Deutsche?«
»Doch«, antwortet Zlatan. »Und ich verstand, was sie sagten … in einer Sprachschule hatte ich früher schon ein wenig Deutsch gelernt, für ein Hotel an der Adria ist das wichtig, und plötzlich habe ich gemerkt, dass diese Deutschen von mir reden, und das hat mir noch mehr Angst gemacht, einer von ihnen, größer als die anderen, fast so groß wie der General Mesic, hat einen Ton angeschlagen, wie das Deutsche manchmal tun, man müsse den da in ein Krankenhaus bringen« – mit dem Zeigefinger zeigt er auf sich selbst – »sofort müsse das sein, nein, so sagte er es nicht, er hat es befohlen, mit einer leisen, kalten Stimme: Sie bringen ihn in ein Krankenhaus. Sie tun das jetzt!«
Die letzten Worte hat er, vielleicht unwillkürlich, mit erhobener Stimme gesprochen, ein oder zwei Fahrgäste scheinen irritiert, sie blicken herüber und gleich wieder weg, als ihr Blick auf den Berndorfs trifft. Nur der Mann an der anderen Fensterseite nimmt keine Notiz, ist nicht irritiert, verzieht keine Miene.
»Dass ich fotografiert worden bin«, fährt Zlatan fort, jetzt mit wieder gedämpfter Stimme, »da habe ich damals gar nicht darauf geachtet. Ich glaube, ich dachte nur daran, was sie mit mir machen werden, wenn die Ausländer wieder weg sind, General Mesic würde es mich büßen lassen, dass ihn der Deutsche so angefahren hat, undenkbar, dass er das nicht tun würde. Dann kam ein Sanitätswagen, und sie legten mich auf eine Bahre und schoben mich hinein, und ich dachte, sie fahren mich jetzt irgendwohin, zu einem toten Brunnen oder sonst einem Loch im Karst, wo sie mich totschlagen werden und hinunterwerfen, und so lag ich auf der Bahre und hörte, wie der Krankenwagen über die holprige Straße fuhr und habe nur noch gehofft, dass es schnell gehen wird, nachher im Wald oder im Karst.«
Der Mann an der anderen
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