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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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gleichmäßig«, empfiehlt Berndorf, »versuchen Sie nicht, das Papier hinunterzuwürgen, das löst nur Brechreiz aus, und dann ersticken Sie womöglich noch …« Dann durchsucht er ihn etwas gründlicher, nimmt ihm das Handy ab, ein US-Reisepass ist auf den Namen Joseph Fitzgerald Kaminski ausgestellt, in der Brieftasche finden sich neben den Scheckkarten ein paar Hundert-Euro-Scheine. Keine Notizen, keine Anweisungen.
    »Das Geld können Sie behalten«, fährt er fort. »Die Pistole und den Pass steck ich in ein Schließfach, das Handy behalt ich mal …« Er bricht ab, denn über Lautsprecher meldet sich der Zugführer und teilt mit, dass der ICE jetzt in den Hauptbahnhof Bonn Einfahrt hat. Berndorf legt die Brieftasche auf den Waschtisch der Toilette und öffnet die Tür.
    »Und sagen Sie Olga einen schönen Gruß!«
    D ie Professorin Barbara Stein blickt auf die Wand des Frühstückszimmers, Aquarelle sind dort aufgehängt, Aquarelle in kräftigen fröhlichen Farben, manche sind lustig überkritzelt, andere wieder sehen aus wie Miniaturen. Leider nimmt Barbara Stein nichts von diesen Bildern und Farben wahr, sie trinkt ihren Kaffee in kleinen Schlucken, der Kaffee könnte etwas stärker sein, in allen Hotels ist das so, aber auch das ist es nicht, was ihr durch den Kopf geht und sie keine Aquarelle wahrnehmen lässt und ums Haar auch nicht die kleinwüchsige bebrillte junge Frau in der weißen Schürze, die sich neben ihr aufgebaut hat und mit sorgfältiger Aussprache fragt:
    »Darf ich Ihnen noch etwas bringen? Kaffee oder Tee?«
    Barbara reißt sich zusammen und bedankt sich artig und bittet um ein Glas Orangensaft, und die kleine Frau wiederholt den Auftrag ganz stolz und wuselt zur Theke. Dies ist ein Hotel, in dem – wie sagt man das auf politisch korrekte Weise? – anders begabte Menschen beschäftigt werden. Seit ihr Gästezimmer anderweitig belegt ist, hat sich die Professorin angewöhnt, Besucher hier unterzubringen. Dagegen ist auch gar nichts zu sagen, nur weiß sie beim besten Willen nicht, wie sie es denn nun finden soll, dass sie sich selbst gestern Nacht hier einquartiert hat. Genug! Sie will nicht weiter darüber nachdenken und greift nach der Zeitung, die im Frühstückszimmer ausliegt, es ist das Berliner Volksblatt. Im Konflikt um den Stellenplan für die Berliner Krankenhäuser zeichnet sich ein Streik des medizinischen Personals ab, sie überlegt, wie sich die Chefärztin Capotta dann wohl verhalten wird, und ist froh, nicht mit einer solchen Situation konfrontiert zu sein. Schließlich landet sie im Lokalteil, irgend etwas steht da über diese Kirchenruine in Berlin-Mitte, die von einem dieser neuen halbkatholischen und vollbigotten Orden gekauft worden ist, Gott befohlen!, denkt sie und blättert weiter und hat vor sich das Bild des jungen Mannes hinter Stacheldraht, des jungen Mannes, der nur noch Haut und Knochen ist und der doch überlebt hat, wenn es denn wahr ist, was Berndorf von Zlatan Sirko erzählt hat.
    Das Bild gehört zu einem größeren Artikel unter der Überschrift: »Überlebender eines Todeslagers auf der Flucht vor seinen Peinigern?« Barbara verzieht das Gesicht, Zeitungsschlagzeilen mit Fragezeichen sollten verboten sein, dann fällt ihr Blick auf ein zweites Bild, das in den Artikel eingeblockt ist, zwei Männer stehen sich gegenüber, der eine Soldat im Kampfanzug, hoch gewachsen, schlank, hartes kantiges Gesicht, den Schnurrbart zu einer schmalen scharfen Linie rasiert, der andere ein Zivilist, halb im Freizeitdress, aber erkennbar kein Befehlsempfänger, überhaupt ist die Hierarchie zwischen den beiden Männern nicht klar, am meisten erstaunt sie der Zivilist, sie kennt ihn nämlich, freilich nur als alten und jetzt kranken und von der Krankheit gekrümmten Menschen. Doch diese Fotografie hier zeigt einen selbstbewussten virilen Mann, der so blickt, als könne nichts in der Welt ihn von seinem Weg abbringen, schon gar nicht irgendwelche verhinderten Stalingradkämpfer … Für Text und Bilder verantwortlich zeichnet ein Gregor Örtlein, hatte Berndorf nicht im Internet nach einem »Sowieso Örtlein« gesucht? Sie beginnt zu lesen.
    … Ein tödlicher Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, der sich in der Nacht zum vergangenen Montag in Berlin-Mitte ereignet hat, war in Wahrheit möglicherweise ein verdeckter Mordanschlag auf einen überlebenden Zeugen von Kriegsverbrechen im jugoslawischen Bürgerkrieg von 1990 bis 1995. Dem Anschlag fiel allerdings ein völlig

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