Schlangenkopf
geistert das bleiche Licht von Signalanlagen, »in wenigen Minuten erreichen wir Koblenz Hauptbahnhof«, teilt der Lokführer mit und muss es gleich noch auf Englisch wiederholen, man hört, dass der arme Mann das nicht gerne tut, und Zlatan Sirko rutscht auf seinem Sitz zurück und blickt zum Waggonfenster hinaus, obwohl schon der Bahnsteig zu sehen ist und die Leute, die dort stehen. Fast verwundert registriert Berndorf, dass Zlatan Sirko seine rechte Hand unter den Mantel geschoben hat, zu der Beretta im Hosenbund.
Berndorf schüttelt den Kopf. Falls Olga sie in diesem Zug vermutet, werden ihre Killer nicht in Koblenz zusteigen. Sie würden ihn und Zlatan im Kölner Hauptbahnhof abfangen.
Unvermittelt steht Berndorf auf und muss sich am Gepäckträger festhalten, weil der Zug nun stärker abbremst. Zlatan Sirko blickt zu ihm hoch.
»Kommen Sie«, sagt Berndorf. »Vielleicht finden wir hier noch ein Hotel.«
Donnerstag
N och ist der Morgen neblig, aber allmählich lichtet sich der Himmel, vielleicht würde es sogar ein sonniger Tag werden. Berndorf sitzt am Fenster im Speisewagen des morgendlichen ICE nach Köln, eine Portion Kaffee vor sich, aber weder der Kaffee noch draußen die Landschaft in der Vorahnung des Frühlings heitern ihn auf. Er ist müde, auf dem durchgelegenen Bett in dem schäbigen Koblenzer Hotel, das ihn und Zlatan aufzunehmen bereit war, hat er die Nacht in der Schattenwelt zwischen Schlaf und Nicht-Schlaf verbracht, immer heimgesucht von dem, was morgen sein würde, und wenn die Gedanken endlich einmal wegkippten, tauchten dafür Traumbilder von Männern mit eingeschlagenen Schädeln auf, die Rechenschaft von ihm verlangten. Am Morgen hatte er zur Eile gedrängt und auf das Hotelfrühstück verzichtet, weil er noch zur Zeit des Berufsverkehrs in Köln sein wollte … Und was dann? Wieder wirft er einen Blick auf den Flyer mit dem Zugfahrplan und den Anschlusszügen, allmählich nimmt in seinem Kopf erste Konturen an, wie der Tag verlaufen könnte. Er blickt zu Zlatan, der zu den Menschen gehört, die sehr lange so aussehen, als seien sie noch keine vierzig. Jetzt sieht man, dass er auf die fünfzig zugehen muss.
»Ich glaube, man fragt Menschen, die in einem Lager waren, nicht nach dieser Zeit«, sagt er aufs Geratewohl und doch in dem Unbehagen, eine Grenze zu verletzen.
»Sie sind manchmal schwer zu verstehen für mich.« Zlatan richtet sich ein wenig auf. »Fragen Sie jetzt danach, oder fragen Sie nicht?«
»Ich würde gerne die Geschichte besser verstehen, die zu diesem einen Foto gehört – Sie wissen schon«, antwortet Berndorf. »Aber ich will Sie nicht bedrängen.« Er will hinzufügen, dass sie – also er und Zlatan Sirko – noch sehr ausführlich zu reden haben werden, und dass das je früher, desto besser geschehe. Doch Zlatan muss von selbst darauf kommen.
»Sie wollen wissen, wie es in diesem Lager zuging?«, fragt Zlatan. »Das wollen Sie nicht wirklich. Niemand will so etwas wissen …« Er nimmt einen Schluck von seinem Orangensaft und blickt dabei um sich, ob ihm jemand zuhört oder zusieht. Aber von den Leuten, die sich an diesem Morgen das Speisewagen-Frühstück antun, wirkt niemand, als sei er einer von Olgas Killern oder Spionen, sie mümmeln ihre Konfitüre-Croissants und lesen die Frankfurter Zeitung, vielleicht haben sie sich auch nur besonders gut getarnt.
»Manchmal kommen im Fernsehen alte Chaplin-Filme«, sagt Zlatan plötzlich. »Ich mag die sehr … aber einen, den kann ich nicht anschauen. Da ist Charlie in Alaska, mitten im Schnee, er und der große dicke Mann suchen nach Gold und haben nichts zu essen, schließlich kocht Charlie seinen Schuh und isst die Schuhnesteln, als wären es Spaghetti … Kennen Sie es?«
Ja, sagt Berndorf, aber gewiss doch kenne er Goldrausch .
»Ich sage Ihnen etwas«, fährt Zlatan fort, »das ist ein wahrer Film. Chaplin muss gewusst haben, was Hunger ist. Dass das etwas ist, das einen nichts anderes mehr denken lässt, keinen Augenblick mehr, und wenn einem etwas eingefallen ist wie dem Charlie, als er den Schuh kocht, da ist man ganz voller Glück und Zuversicht, gleich wird man zu essen haben, gleich wird man satt werden … In Dretelj haben sie die Geschichte von einem erzählt, der eine Otrovnica … eine Viper erwischt und sie gekocht und gegessen hat … er sei aber gestorben, hieß es, ich weiß nicht, ob am Schlangengift. In Dretelj gab es aber keine Vipern, es hatte keinen Sinn, danach zu suchen, weil – es
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