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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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– seit er sich mit einem Stapel Bücher über den jugoslawischen Bürgerkrieg in eine stille Ecke der Institutsbibliothek zurückgezogen hat.
    Unbehagen? Nicht deshalb, weil es mühselig ist, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Es hat zu seinem Beruf gehört, in den Wortgebäuden der Menschen auf die unauffälligen, kaum wahrnehmbaren Brüche und Risse zu achten und ebenso auf die allzu glatten Fassaden – oder vielmehr: er hat versucht, das zu tun, und die Mühsal dabei ist ihm vertraut. Doch das Unbehagen kommt von einer anderen Seite. In allem, was er bisher gelesen hat, scheinen Wahrheit und Lüge ineinander vermischt zu sein wie Wasser- und Sauerstoff im Knallgas.
    Wahr ist, dass ein kleines bosnisches Mädchen, das in den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Sarajewo oder Srbrenica oder Banja Luka lebt, vor nichts größere Angst haben muss als vor den Menschen.
    Ist es aber wahr, dass ein Psychologe einem schwer traumatisierten Kind eine solche Frage stellt? Kann das sein? Und dass dieser Psychologe seine Frage und die Antwort darauf womöglich selbst weitererzählt, weil er sich gut dabei vorkommt?
    Sehr wohl kann das sein, entscheidet Berndorf. Er hat durchaus schon Psychologen erlebt, zum Beispiel vor Gericht, die zu einer solchen Frage in der Lage sind. Die vielleicht sogar stolz darauf wären, ein solches Kind mit der Nase auf seine Angst gestoßen zu haben, denn es gibt keine Rohheit, keine Stupidität, für die sich nicht auch ein akademisches Mäntelchen finden würde.
    Also ist wahr, was Dubravka Ugresic schreibt. Es gibt nichts, vor dem man so viel Angst haben muss wie vor uns selbst. Ist es diese Wahrheit, die der Grund dafür ist, dass die Katastrophe des jugoslawischen Bürgerkriegs im europäischen Bewusstsein so gut wie keine Rolle spielt, jedenfalls eine viel geringere als die viel länger zurückliegende Katastrophe des Spanischen Bürgerkriegs? Spanien, das kann noch immer angesehen werden als die Tragödie eines heldenhaften Kampfes gegen den Faschismus … Aber Jugoslawien? Berndorf nimmt das Buch wieder auf und blättert eine paar Seiten weiter:
    … Mit dem Propagandaslogan »Wenn wir schon nicht arbeiten können, so können wir uns doch schlagen« eröffnete Milosevic ungeahnte Freiräume und gab Kriminellen, Mördern, Mafiosi die »menschliche Würde« zurück, kurz allen, die eben diese ›Freiheit‹ gewollt hatten …
    Der Jugoslawien-Krieg also ein Krieg für die Freiheit, andere nach Gutdünken umbringen und nach Lust und Laune vergewaltigen zu dürfen? Und ein Krieg, den man schon deshalb verdrängen muss, weil einem sonst klar würde, welche Bestialität unter dem dünnen Firnis der europäischen Zivilisation verborgen ist? Berndorf zieht eine ärgerliche Grimasse. Wir sind hier in Deutschland! Über die Bestialität, zu welcher der anständige, der wohlerzogene Bürger in der Lage ist, braucht sich hier niemand Illusionen zu machen. Niemand braucht hier mit dem Finger auf ein anderes Volk zu zeigen.
    Aber deswegen ist er nicht hier. Er ist hier, weil er etwas erfahren will über das Lager Dretelj und den Besuch der beiden Bundestagsabgeordneten Fausser und Eschle dort, aber alles, was er bisher gelesen hat, könnte er zusammenstellen zu der Chronik eines angekündigten Mordens, einer von einer ehrbaren Belgrader Akademie der Wissenschaften vorbereiteten und angeheizten Massenschlächterei und eines kollektiven Versagens ebenso ehrbarer europäischer Regierungen. Das alles könnte er schreiben und dazu noch eine Geschichte über den Geruch des Todes, den manche selbst dann nicht wahrnehmen, wenn er ihnen in die Nase sticht.
    Nur hilft ihm das alles nicht weiter. Er hat keine Hinweise auf Fausser und Eschle gefunden, nicht einmal der Artikel in der Rundschau vom Sommer 1993, auf den sich das Foto des Lagerinsassen Zlatan Sirko bezieht, erwähnt die Reise der beiden Abgeordneten. Was Berndorf findet, sind immerhin Berichte über das Lager Dretelj selbst, von den Kroaten eingerichtet auf einem Gelände, das zuvor von der ehemaligen jugoslawischen Nationalarmee genutzt worden war und in dessen sechs Baracken – jede etwa 200 Quadratmeter Fläche bietend – im Sommer 1993 rund 2400 Gefangene interniert waren.
    Was bedeutet Internierung ? Englische und amerikanische Autoren nennen das Lager Dretelj ein concentration camp . Berndorf registriert, dass in den deutschsprachigen Texten der Begriff Konzentrationslager vermieden wird.
    Was hatten sich die Gefangenen zuschulden

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