Schlangenkopf
kommen lassen?
Sie waren Bosnier. Oder Bosniaken, wie sie in manchen Texten bezeichnet werden. Das bedeutet: Sie waren Moslems. Für die kroatischen Aufseher genügte das, um sie hungern zu lassen, um sie zu demütigen und zu misshandeln. Mehrere Gefangene wurden zu Tode gefoltert, andere erschossen, wieder andere wurden vergewaltigt. Vergewaltigt? In dem Camp waren auch Jungen interniert, keine 16 Jahre alt.
Vielleicht hatte man sie gerade deshalb interniert.
Wer ist für diese Verbrechen bisher zur Rechenschaft gezogen worden? Im Fall des Konzentrationslagers Dretelj wurde bisher ein Aufseher verurteilt, acht Jahre Haft wegen der Teilnahme an 14 Folterungen, von denen zwei mit dem Tod der Gefolterten endeten.
Acht Jahre? Vielleicht hat ihn das Gericht für einen Handlanger gehalten, für einen, der bloß mitgemacht, bloß Befehle ausgeführt hat? Wann werden diese Juristen begreifen, dass solche Verbrechen nur möglich sind, weil sich immer jemand findet, der ein bisschen mitmacht? Der sich befehlen lässt?
Ein zweiter Aufseher ist zwar schuldig gesprochen worden, hat aber dagegen Einspruch eingelegt, so dass noch kein Strafmaß festgelegt wurde. Weitere Beschuldigte sind namentlich bekannt, stehen aber bisher nicht vor Gericht. Auch ihnen werden Verbrechen gegen die Genfer Konvention, Misshandlungen, Folterungen und Vergewaltigungen vorgeworfen. Irgendwann, vielleicht, werden auch sie vor Gericht stehen. Um dann ihre Strafen nicht als Mörder und Folterknechte zu bekommen, sondern als Handlanger und Befehlsempfänger.
Berndorf schüttelt den Kopf, als sei ihm gerade ein Gedanke gekommen und gleich wieder davongeflogen wie eine Mücke. Er bleibt verschwunden. So lehnt er sich zurück und versucht, Bilanz zu ziehen. Was hat er erfahren?
Zlatan Sirko war oder ist mit einiger Wahrscheinlichkeit kein serbischer Terrorist gewesen, sondern schlicht ein bosnischer Muslim. Durchaus möglich, dass er als Zeuge für die Verbrechen in Dretelj aussagen könnte, zum Beispiel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Was könnte Sirko aussagen? Es müsste etwas sein, überlegt Berndorf, das neu ist. Das über das hinausgeht, was bisher in Berichten dokumentiert und in den beiden bisherigen Strafverfahren als Beweis erhoben worden ist.
Aber Fehlanzeige. Er hat nichts in der Hand als Spekulationen. Solche zudem, die ihrerseits an nichts anderes geknüpft sind als eine Annahme, die selbst hoch spekulativ ist: dass es nämlich Sirko gewesen sei, der mit dem Landrover hätte zu Tode gefahren werden sollen. Hoch spekulativ? Nun, so haarsträubend hoch auch wieder nicht.
Was nun? Draußen ist die Dämmerung aufgezogen, also steht er auf, sammelt die Bücher ein, mit denen er den Nachmittag verbracht hat, und bringt sie zurück. Noch immer spukt durch seinen Kopf die Erinnerung an den Gedanken, den er nicht gefasst hat, er fühlt sich, als habe er etwas versäumt, von dem er nicht einmal weiß, was es ist.
Im Foyer herrscht nicht mehr ganz das dichte Kommen und Gehen der Mittagszeit, es ist eher so, als sei der Arbeitstag jetzt in seine entscheidende, seine ernsthafte Phase getreten. Über einem Stand in der Mitte des Foyers ist ein großes Spruchband mit demselben Slogan aufgehängt, den er schon auf dem Plakat in der Cafeteria gelesen hat:
STOPPT DIE BÜCHERDIEBE!
An dem Stand kann man sich in Unterschriftenlisten für den Erhalt der Institutsbibliothek eintragen, und da will Berndorf nicht so sein und stellt sich auch dazu. Er muss etwas warten, denn vor ihm tragen sich zwei junge Frauen ein, so nutzt er die Zeit und sieht sich etwas um, aber er findet nichts, was ihm auffallen müsste, junge Leute im Gespräch, wartend oder in ihre Notizen vertieft. Er will sich wieder dem Stand zuwenden, als sein Blick einen Mann streift, der an einem der Aushänge mit dem Vorlesungsverzeichnis und den Mitteilungen der Institutsleitung und des ASTA steht. Es ist ein Mann mittleren Alters, er liest mit Andacht – Moment! Liest er wirklich? Berndorf sieht nur den Rücken des Mannes, unauffälliger blaugrauer Mantel, Hosenbeine grau, darunter solide, gut besohlte Treter. Kein erkennbares Übergewicht, keine ungepflegten langen grauschwarzen Haare, sondern eine beginnende Glatzenbildung am Hinterkopf, die Ohren freiliegend. Kein Hut, natürlich nicht, Schlapphüte tragen heutzutage selten selber welche … Noch immer scheint der Mann in Anfangszeiten und Bekanntgaben vertieft.
»Sie wollten sich auch eintragen?« Ein junger Mann
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