Schlangenkopf
nicht teilgenommen?«, fragt Berndorf und sieht zu, wie seine rechte Hand bandagiert wird.
»Doch«, kommt die Antwort. »Ich war in einem Lager. In Dretelj. Da habe ich genug teilgenommen … Aber ich fürchte, die Hand sollte genäht werden. Das kann ich nicht.«
»Das muss auch morgen noch gehen«, meint Berndorf. »Aber ich habe dumm gefragt. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob Sie als Kriegsgefangener nach Dretelj gekommen sind …«
»Nach Dretelj bin ich nicht gekommen«, antwortet Zlatan und knüpft mit den aufgeschnittenen Enden der Mullbinde einen Knoten. »Man hat mich dahingebracht wie einen Sack Kartoffeln, nein: wie einen Sack Müll. Und ich war auch kein Kriegsgefangener. Die hat es in Dretelj nicht gegeben.«
»Nein?«
»Die konnte es nicht geben. Kriegsgefangene unterstehen dem Schutz der Genfer Konvention. Dann hätten wir auch so behandelt werden müssen. Hätten genug zum Essen bekommen müssen, zum Beispiel.« Er steckt das restliche Verbandsmaterial wieder in den grauen Kasten und blickt zu Berndorf auf. »Da wir nicht so behandelt wurden, waren wir auch keine Kriegsgefangenen.«
»Sondern?«
»Das müssen Sie die Leute fragen, die uns eingesperrt haben.« Zlatan schließt den Kasten mit dem Erste-Hilfe-Set. »Vermutlich werden sie Ihnen erklären, dass wir Terroristen waren.«
»Und was meinen Sie, warum Sie dort waren?«
»Wegen meines Mokka«, antwortet Zlatan. »Aber was machen wir jetzt mit diesem Kasten? Sollen wir ihn mitnehmen?«
Berndorf überlegt kurz. »Nein«, entscheidet er dann und schiebt den Kasten an die Ecke des Waschtisches, »der steht jetzt genau so da, als gehörte er dahin.« Er rollt den Hemdsärmel wieder herunter, lässt sich von Zlatan ins Sakko helfen und nimmt seinen Mantel mit dem rechten Arm, so dass von der verbundenen Hand und dem dunkel verfleckten Ärmel seines Sakkos so gut wie nichts zu sehen ist. Er wirft einen Blick in den Spiegel und geht durch die Tür, die ihm Zlatan aufhält, hinaus in die Bahnhofshalle.
Es ist später Mittwochabend, aber die Eintracht spielt auch in diesem Jahr in keinem internationalen Wettbewerb, niemand hat zu viel getrunken oder muss aus sonst einem Grund randalieren, die späten graugesichtigen Passagiere verlieren sich im Licht der Kunststoffröhren, das keine Schatten wirft, in den Bahnhofsläden werden die Eingänge zugestellt. Und die jungen Männer in den knapp sitzenden Höschen sind verschwunden, kaum dass sich am anderen Ende der Halle eine Streife der Bundespolizei blicken lässt. Auch Zlatan will am liebsten umkehren.
»Warum war der Mokka schuld?« Auch Berndorf ist stehen geblieben, aber dabei funkelt er Zlatan an und macht eine einladende Handbewegung, die in Wirklichkeit gar nicht einladend ist, sondern befehlend, sie signalisiert, dass sie – verdammt noch einmal! – weitergehen sollen, und zwar so, als ob nichts wäre, und Zlatan begreift.
»Also der Mokka …«, sagt er, »das ist eine lange Geschichte.« Und schon bricht er wieder ab, denn vor sich sehen sie einen Kiosk, zwei Fahrgäste warten dort bei einem letzten Bier auf ihren Anschlusszug, zwei Tische weiter hat eine Frau mit einer Pagenfrisur eine Tasse Kaffee vor sich stehen und den Bahnsteig mit dem Gleis 7 fest im Blick, auf dem abfahrbereit der ICE 22.10 Uhr nach Dortmund wartet.
Eine Frau mit einer Pagenfrisur? Wieder will Zlatan stehen bleiben, aber Berndorf geht jetzt einfach weiter, an den beiden Bundespolizisten vorbei und zielgerichtet auf die Treppe zu, die zu den Bahnsteigen der S-Bahn im Untergeschoß führt, und so folgt ihm Zlatan, und auch die beiden Bundespolizisten setzen ihren schlendernden breitbeinigen Gang durch die Halle fort, es wird schon alles in Ordnung sein, und wenn nicht, werdet ihr uns kennen lernen! So ein Gang ist das, und es fängt auch niemand an, eine Pistole aus der Handtasche oder dem Hosenbund zu holen und damit herum zu knallen, nein, die Frau mit der Pagenfrisur trinkt ein Schlückchen Kaffee und schaut weiter den Fahrgästen zu, die zum ICE nach Dortmund hasten, und Zlatan geht hinter Berndorf die Rolltreppe hinab, die sie ins Untergeschoß hinunterträgt, und muss jetzt doch zurückblicken, die Hand mit der Beretta noch in der Manteltasche versenkt, aber niemand rennt ihnen hinterher. Unten wartet ein Zug, plötzlich hat es Berndorf doch eilig, sie springen in den nächsten Waggon, hinter ihnen schließt sich die Tür. Zunächst kaum merklich und dann doch immer schneller setzt sich der Bahnsteig
Weitere Kostenlose Bücher