Schlangenkopf
gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesenbetrüger kann man nämlich – das weiß der Bilch aus Erfahrung – die Betrügerei an den Augen ablesen. So einer kann sich geben, wie er will, und erzählen, was er will – an den Augen erkennt man ihn (wenn man sich denn darauf versteht), an diesem wachen beobachtenden Blick, der genau registriert, wie sich beim Gegenüber Glauben, Zweifel, Misstrauen, Habgier und Dummheit durcheinanderrühren, und wann Dummheit und Habgier schließlich obsiegen.
Fast widerstrebend wendet sich der Bilch dem Text zu.
… »Überzeugen Sie sich doch selbst«, sagt Jörg Matthaus und weist mit der großen und doch auffallend wohlgeformten Hand auf das Rund des alten römischen Amphitheaters, »diese Küste ist uraltes mitteleuropäisches Kulturland, es ist erfüllt vom Widerhall der Geschichte, in den Gassen der Innenstädte von Pula oder Rovinj oder Dubrovnik gehen sie über die Steinplatten, über die vor Ihnen die Venezianer gegangen sind und vor diesen die Römer. Sie können Schloss Duino nicht besichtigen, ohne Rilke zu begegnen, und Triest nicht, ohne den Spuren von James Joyce zu folgen.«
Der Mann, der so mühelos ins Schwärmen geraten kann, gilt im Berufsleben als knallharter Sanierer. Zu seiner Erfolgsgeschichte gehört die Rettung der traditionsreichen Thüringer Präzisions- und Steuerungstechnik, deren Potential er erkannte, als andere Investoren nur müde abwinkten. Gegen den harten Widerstand der Gewerkschaften reduzierte er das Unternehmen auf sein Kerngeschäft, brachte es so wieder in die schwarzen Zahlen und verkaufte es schließlich wieder an ein internationales Konsortium. Unterm Strich blieb ein bemerkenswerter Gewinn für die von ihm angeführte Investorengruppe. Ähnlich erfolgreich hat sich sein Engagement bei der ebenfalls in Schieflage geratenen Privatbank Oheymer & Jaumann gestaltet. Und so jemand redet nicht über die aktuellen Dow-Jones-Kurse, sondern von Joyce und Rilke?
Statt einer Antwort hebt Matthaus fast belustigt den Kopf und zitiert einen Vers aus der achten von Rilkes Duineser Elegien :
»Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnen wieder und zerfallen selbst …«
Ärgerlich schließt der Bilch den Artikel. Was zu viel ist, ist zuviel. Es kann einer sein Geld damit verdienen, dass er Häuser frisch anstreicht oder auch bloß schönredet und sie dann verkauft. Nichts dagegen zu sagen. Wenn einer ein richtiges Glückskind ist, sind es nicht bloß Häuser. Sondern Fabriken. Die redet er nicht schön, sondern schmeißt den einbeinigen Pförtner hinaus und die alleinerziehende Tippse und tritt dem Betriebsrat in den Arsch und den Gewerkschaften gleich dazu. Und dann verkauft er. Kann man alles machen. Wenn solche Leute alt genug werden, hängt man ihnen das Bundesverdienstblech um. Es kann einer auch, wenn er es sich traut, ganze Landschaften samt Sonnenlicht und Meeresrauschen verkaufen. Dazu die Fünf-Sterne-Hotels und die Marinas voller Yachten für die Neureichen und ihre Schönen. Oder U-Boot-Stollen unterm Ferienidyll. Der Bilch hat nichts dagegen. Und wenn die Häuser und Hotels und Meeresbuchten und Yachthäfen einem vielleicht gar nicht gehören, und er verkauft sie trotzdem – nun, das ist dann eine Übung für die Fortgeschrittenen, der Bilch zöge seinen Hut davor, hätte er einen.
Aber eines, verdammt noch mal, geht nicht: dass so ein Scheißkerl einem dazu auch noch Rilke-Verse ums Maul schmiert.
A rgwöhnisch sehen die Strichjungen, zu deren Revier die Bahnhofstoilette gehört, den beiden Männern nach, die dort verschwinden. Der Jüngere der beiden trägt einen teuren, aber etwas zu breiten und zu kurzen Ledermantel und hält einen grauen Kasten unter dem Arm – das Erste-Hilfe-Set aus dem goldfarbenen Benz – und stellt ihn auf dem Waschbecken ab. Vorsichtig zieht der Ältere sein Sakko aus, der Jüngere krempelt ihm den blutverschmierten rechten Ärmel auf und macht sich daran, die zerschnittene Handfläche abzutupfen und zu desinfizieren und zu verbinden.
»Sieht so aus, als ob Sie sich drauf verstehen«, sagt Berndorf mit zusammengepressten Zähnen, denn die Desinfektionslösung brennt abscheulich. »Sie haben eine Ausbildung als Sanitäter?«
»Bei der Armee lernt man so etwas«, antwortet Zlatan. »Oder man kann es lernen, wenn man will.«
»War das während des Kriegs?«
»Nein«, kommt die Antwort. »Davor.«
»Sie haben am Krieg
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