Schlangenkopf
in Bewegung und zieht an ihnen vorbei, für die Frau, die ungeachtet ihres Kostüms mit langen sportlichen Sätzen die Treppe hinabspringt, ist es zu spät, für den Bruchteil einer Sekunde sehen Zlatan und sie sich in die Augen, und Zlatan weiß, dass er diesen Blick nie vergessen wird, nicht solange er lebt.
Wie lange das auch immer sein wird.
D ie Schreibtischlampe zieht ihren Lichtkreis um den Laptop und den Stapel handschriftlicher Notizen, sonst liegt das Zimmer im Dunklen. Die Vorhänge sind nicht vorgezogen, und würde man ans Fenster treten und die Augen mit der Hand gegen das Zimmerlicht abschirmen, könnte man draußen die Zweige der Alleebäume im Widerschein der Straßenlaternen sehen.
Barbara Stein sitzt zurückgelehnt vor ihrem Schreibtisch, scheinbar entspannt, und blättert im Oxford Dictionary, aber sie findet nicht, was sie sucht. Zum Beispiel boastful – das ist ein schönes Wort, jemand ist zum Platzen aufgebläht von der heißen Luft des Selbstlobs, so stellt sie sich das vor, aber doch fehlt etwas darin. Vielleicht geht swaggering – da gibt es immerhin als Anklang den swagger-cane , das Stöckchen, das die Herren Offiziere unterm Arm trugen, wenn sie tänzelnd über den Exerzierplatz schritten. Nur: Der wilhelminisch-borussische Dünkel trat (oder tritt) noch einmal um eine Nuance anders auf. Einer englischsprachigen Zeitschrift hat sie einen Artikel über die Berliner Republik zugesagt, die eben jetzt zwanzig Jahre werden wird, und je länger sie darüber nachzudenken versucht, desto sinnloser erscheint ihr das Unterfangen. Wieso Berliner Republik? Das Regierungssystem dieses Landes ist abgehoben, die Sprache und das Denken seiner politischen Klasse entfernt sich immer weiter von der Lebenswirklichkeit sowohl der Berliner wie der seiner übrigen Bewohner und kommt ihnen auch dadurch nicht näher, dass diese nahezu jeden Abend, den Gott und die ARD geben, das Kanzleramt im Fernsehen betrachten können wie ein soeben gelandetes intergalaktisches Raumschiff. Wieso also: Berlin? Und wieso überhaupt: Republik? Was ist republikanisch an diesem Regierungssystem, das in Wahrheit ausschließlich nach den Regeln des Short Message Service funktioniert, mit knappen schnellen Absprachen, ähnlich den Ritualen der Börsenhändler und wie diese jeder Nachprüfung durch den Außenstehenden entzogen?
Ein Rascheln drängt sich in Barbaras Gedanken, sie blickt auf. Was da raschelt, ist ihr Mobiltelefon, Barbara zwingt sich, nicht sofort nach dem Gerät zu greifen. Wenn Berndorf sich den ganzen Tag nicht gemeldet hat, wird er wohl seinen Grund dafür haben. Aber wenn er irgendwann dann doch glaubt, er habe etwas mitzuteilen, dann muss frau nicht angehüpft kommen wie ein kleines Hundchen. Aber ist die Nachricht überhaupt von ihm?
Sie schiebt den Papierstapel zur Seite und liest die Nachricht:
Akku sehr schwach, bitte aufladen!
S ie zieht eine Schnute, wie sie das nie tun würde, wenn jemand dabei wäre, holt das Ladegerät und schließt das Mobiltelefon an. Wie viel Uhr ist es eigentlich? Viertel nach zehn? Also immer noch kein Anruf. Berndorf hat ja so unsagbar Wichtigeres zu tun. Wo war sie eigentlich stehen geblieben?
Eine Filmmelodie spukt ihr durch den Kopf und will mit der Zeile: »Jetzt kommt die Berliner Republik« auf einen Vers gebracht werden. Die Melodie stammt aus den Wunderkindern , einem Streifen aus den fünfziger Jahren – wie will sie einem englischsprachigen Leser diese Assoziation erklären? Oder überhaupt einem heutigen Leser? Die Gedanken- und Filmfetzen, die ihr durch den Kopf gehen, sind merkwürdig rückwärtsgewandt, unversehens durchsetzt sich in ihrer Vorstellung das Personal der heutigen politischen Klasse mit Figuren, deren Gesichter wie von George Grosz gezeichnet sind, eine davon ist – vielmehr: war – ein deutscher Finanzminister und drohte anderen Ländern mit der Peitsche. Wie war das Wort, für das sie eine englische Entsprechung sucht und nicht findet? Großschnäuzig. Ach!, denkt sie, nehmen wir doch einfach loud-mouthed …
Wieder hat das Mobiltelefon zu gurren und zu vibrieren begonnen. Ist man vielleicht schon aufgeladen? Nein? Ach, wirklich eine Nachricht? Sie liest mit hochgezogenen Augenbrauen:
Geh ins Hotel. Noch heute Nacht. Bitte!
Barbara Stein liest die Nachricht und runzelt nicht einmal die Stirn. Es ist unsinnig, bei einer solchen Nachricht die Stirn zu runzeln. Die Nachricht selbst scheint unsinnig. Aber er hat dieses: »Bitte!«
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