Schlangenlinien
weiß bereits, dass Sie nicht da sein werden, wenn ich diesen Brief samt Anlage im
Sailor's Rest
hinterlasse, aber es erscheint mir nur fair, Ihnen Zeit zu geben, sich Ihre Reaktion auf die unerledigten Fragen zwischen uns zu überlegen. Ich habe dazu immerhin zwanzig Jahre Zeit gehabt.
Hochachtungsvoll,
M. Ranelagh
20
Drury hielt schon nach mir Ausschau, als ich um halb elf Uhr abends das
Sailor's Rest
betrat. Es war ein Freitag, und es war sommerlich warm, das Pub war voller Urlauber und Segler von den Booten im Yachthafen, und es bereitete mir eine gewisse Genugtuung, das Unbehagen in seinen Augen zu sehen, als ich mich näherte.
Er kam hinter dem Tresen hervor, noch ehe ich ihn erreicht hatte. »Wir gehen nach hinten«, sagte er kurz mit einer ruckhaften Kopfbewegung zu einer Tür in der Ecke. »Ich werde dieses Gespräch bestimmt nicht in der Öffentlichkeit führen.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Haben Sie Angst vor Zeugen?«
Er antwortete mit einer zornigen Geste, als wollte er mich beim Arm packen und kurzerhand in die Richtung stoßen, in der er mich haben wollte, aber die neugierigen Blicke der Gäste bewogen ihn, das zu lassen. »Ich will hier keine Szene«, brummte er, »schon gar nicht an einem Freitagabend. Sie haben geschrieben, Sie wollten fair sein – also seien Sie auch fair. Hier verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt, das wissen Sie.«
Ich lächelte dünn. »Lassen Sie mich doch wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaften und sagen Sie Ihren Gästen dann, ich sei verrückt«, schlug ich vor. »So haben Sie es doch letztes Mal gemacht.«
Er löste das Problem, indem er ohne ein weiteres Wort Richtung Tür ging und es mir überließ, ihm zu folgen oder nicht. Ich folgte. Das Hinterzimmer war ein trister kleiner Büroraum mit verstaubten Aktenschränken und einem grauen Metallschreibtisch, auf dem zwischen Papierstapeln schmutzige Styroporbecher mit Kaffeeresten herumstanden. Es war eine kleinere, schäbigere Version von Jocks Arbeitszimmer, und auf dem Weg zu dem Schreibtischstuhl, den Drury mir anbot, nachdem er sich auf einem Stapel Kartons in der Ecke niedergelassen hatte, fragte ich mich, warum Männer sich offenbar immer am wohlsten fühlen, wenn sie sich von den Requisiten ihrer ‘Arbeit’ umgeben wussten.
Er fixierte mich scharf, während er auf ein Wort von mir wartete.
»Was wollen Sie?«, fragte er dann brüsk. »Eine Entschuldigung?«
Ich ließ meinen Rucksack zu Boden fallen und schob mit der Fingerspitze einen zur Hälfte mit abgestandenem Kaffee gefüllten Becher von mir weg. »Wofür?«
»Ganz egal«, versetzte er kurz. »Hauptsache, ich werd Sie los.«
»Die Entschuldigung können Sie sich sparen. Ich würde sie sowieso nicht annehmen.«
»Was wollen Sie dann?«
»Gerechtigkeit«, antwortete ich. »Das ist das Einzige, was mich je interessiert hat.«
»Das können Sie vergessen – nach so langer Zeit werden Sie die nicht kriegen.«
»Für mich nicht? Oder für Annie nicht?«, fragte ich neugierig.
Er drückte seine flache Hand auf den geöffneten braunen Umschlag, der auf einer Seite des Schreibtisches lag. »Weder noch«, erklärte er selbstsicher.
Ich fragte mich, ob er sich bewusst war, was er da sagte; seine Worte nämlich ließen darauf schließen, dass er wusste, dass man uns Gerechtigkeit schuldete. Annie
und
mir. »Dieser Umschlag enthält die Ergebnisse von zwanzig Jahren geduldiger Nachforschung, die zeigen, dass Annie ermordet wurde«, sagte ich in leichtem Ton.
»Und es ist nichts als Blödsinn.« Mit einer aggressiven Bewegung beugte er sich vor. »Für jeden Pathologen, den Sie präsentieren werden, um nachzuweisen, dass die festgestellten Verletzungen Annie bereits Stunden vor Eintritt des Todes zugefügt wurden, wird die Kronanwaltschaft fünf präsentieren, die den ursprünglichen Obduktionsbefund bestätigen werden. Es ist eine schlichte Rechenübung... das war immer schon so. Strafverfahren sind teuer, und der Steuerzahler finanziert nicht gerne Unternehmen, bei denen nichts herauskommt. Sie brauchen verdammt viel mehr, um zu erreichen, dass dieser Fall wieder aufgerollt wird.«
Er war mir unangenehm nahe gekommen, und ich rutschte vor ihm zurück, von der geballten Energie abgestoßen, die in Wellen von ihm ausging. Sie wirkte jetzt ganz anders auf mich als vor zwanzig Jahren; damals hatte sie für mich Kompetenz ausgestrahlt und ich ließ mich dazu verleiten, offener zu sprechen, als ich es sonst vielleicht getan hätte. Nun,
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