Schlangenlinien
gesagt, Annie hätte nach Alkohol gestunken. Aber ich habe erst etwas gerochen, als ich mich zu ihr hinunterbeugte, um sie an der Schulter zu rütteln.« Ich sah ihn einen Moment lang neugierig an. »Und Alkohol habe ich nicht gerochen, sondern Urin, und es ist mir schleierhaft, wie du Urin mit Alkohol verwechseln konntest.«
»Das hab ich gar nicht. Ich hab zu Jock gesagt, sie hätte zum Himmel gestunken. Den Alkohol hat er dazugemacht.«
»Hast du gemerkt, dass es Urin war?«
»Ja.«
»Mein Gott!« Ich schlug mit der offenen Hand knallend auf den Tisch. »Soll ich dir mal was sagen? Jedes Mal, wenn ich zu Drury gesagt habe, er soll sich mal überlegen, warum ihr Mantel nach Urin gestunken hätte, erklärte er mir, ihre Nachbarn hätten gesagt, das wäre völlig
normal
– sie wäre immer verdreckt und eklig gewesen und hätte gestunken.«
Abrupt senkte er den Kopf. »Ich fand es komisch«, bekannte er niedergedrückt. »Dein Schützling des Jahres – die gottverdammte verrückte Annie – macht sich vor deiner Haustür in die Hose, weil sie zu betrunken ist, um das Wasser zu halten. Als ich im Haus war, hab ich erst mal zehn Minuten darüber nachgedacht, bis mir einfiel, dass wahrscheinlich du sie da draußen finden und garantiert mit ins Haus bringen würdest, um sie sauber zu machen. Und ich dachte, das ist der Tag, an dem meine Ehe in die Binsen geht.«
»Warum?«
Er atmete mühsam durch die Nase. »Sie wusste von Libby – ich vermute, sie hat uns irgendwann einmal zusammen gesehen. Jedenfalls hat sie sich auf der Straße immer von hinten an mich angeschlichen und mich einen ‘dreckigen Kerl’ geschimpft.« Er rang mit den Worten, als ginge es um sein Leben. »‘Na, haben Sie heute das Flittchen gevögelt, Sie dreckiger Kerl?’, ‘Das ist wohl das Flittchen, das ich da an Ihnen rieche, Sie dreckiger Kerl?’, ‘Was wollen Sie mit solchem Abschaum, Sie dreckiger Kerl, wenn Sie zu Hause so eine hübsche ordentliche Frau haben?’ Ich hasste sie dafür, weil ich wusste, dass sie Recht hatte, und als ich sie da unten in der Gosse liegen sah«– er geriet ins Stocken –»als ich sie da liegen sah und den Urin roch, hab ich ihr einen Tritt gegeben und gesagt: ‘Und wer ist jetzt dreckig?’« Er schlug die Hände vor das Gesicht, und ich sah die Tränen, die zwischen seinen Fingern hindurch auf den Tisch hinuntertropften. »Seitdem ist mein Leben die Hölle. Ich wünsche ständig, ich könnte es zurücknehmen, aber ich kann es nicht.«
Ich sah einen Kellner aus der Küche kommen, er hielt eine Tragetasche hoch, zum Zeichen, dass unser Curry fertig war, und ich erinnere mich, dass ich dachte, wie sehr das Schicksal doch von der Zeit abhängig ist. Wenn ich an jenem Abend nicht bei einem Elternabend gewesen wäre... wenn Jock um halb neun das Pub verlassen hätte, ohne länger auf Sharon zu warten... wenn bestelltes Essen nicht im ungünstigsten Moment gebracht würde...
»Komm, fahren wir nach Hause«, sagte ich.
Zwei Tage später rief Maureen Slater an. Sie war erbost und misstrauisch, weil Alan ihr erzählt hatte, dass ich in seinem Haus fotografiert hatte. Sie wollte wissen, was ich ihr bei dem vorgeschlagenen Geschäft anzubieten hätte. Ich wiederholte, was ich ihr schon am Montag gesagt hatte: Wenn sie nicht bereit sei, mir zu sagen, was sie wisse, würde ich die eidesstattliche Versicherung des Juweliers aus Chiswick der Polizei von Richmond übergeben – und obendrein die Aufnahmen der mexikanischen Artefakte in Alans Wohnzimmer. Niemand würde dann mehr daran zweifeln, dass sie Diebe seien, sagte ich. Bliebe nur die Frage, ob sie auch Mörder seien.
Sie sagte mir einiges von dem, was ich wissen wollte; aber interessanter war, was sie unterschlug.
* * *
Brief an Sergent James Drury – aus dem Jahr 1999
Leavenham Farm
Leavenham
Nr. Dorchester
Dorset DT2 XXY
4 Uhr 30 morgens – Freitag, 13. August 1999
Sehr geehrter Mr. Drury,
seit dem Abend, an dem ich Annie sterbend in der Gosse fand, ist mein Schlafrhythmus für immer gestört, und ich kann heute von Glück sagen, wenn ich es schaffe, vier Stunden am Stück zu schlafen. Ich habe immer gehofft, dass das schlechte Gewissen Ihnen über die Jahre hinweg ähnliche schlaflose Stunden bereitet hat, aber ich fürchte, das sind falsche Hoffnungen. Ein Gewissen zu haben bedeutet, dass man sich hin und wieder selbst in Frage stellen muss, und nicht einmal in meinen kühnsten Träumen konnte ich mir vorstellen, dass Sie so etwas tun.
Ich
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