Schlangenlinien
Lastwagen lief.«
»Und Sie hatten ihm diesen Befund diktiert.«
»Das können Sie nicht beweisen. Wenn Hanleys Akten verschwunden sind, lässt sich nicht nachweisen, wer von uns was gesagt hat.«
Ich lachte kurz. »Er hat Ihnen keinen Gefallen damit getan, dass er die Akten verschwinden ließ. Im Augenblick gibt es nur ein einziges Dokument, das Ihre Unfalltheorie stützt, und das ist der nicht einmal eine Seite umfassende Bericht Hanleys an den Coroner. Der enthält aber so viele Fehler, dass er nicht ernst zu nehmen ist. Hanley hat Annies Namen falsch geschrieben, er bezog sich auf Blutergüsse an ihrem linken Arm anstatt an ihrem rechten, und er erwähnte überhaupt nicht die Hämatome an ihren Schenkeln, die auf den Fotos deutlich zu sehen sind.«
Ich sah erstaunt, wie er sich voller Nervosität die Lippen leckte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt.«
»Doch, es stimmt«, versicherte ich. »Hanley war zu dem Zeitpunkt schon so inkompetent, dass er einfach die Angaben der Polizisten übernahm, die ihm die Leiche brachten. Ich vermute, Sie haben die Arme verwechselt, weil ich Ihnen gesagt hatte, dass ich sie mit der linken Seite nach oben an den Laternenpfahl gelehnt vorfand.«
Er musste sich seine Antwort überlegen. »Mich geht das nichts an. Hanley hatte seine Aufgabe – ich hatte meine. Die Kritik sollte sich an ihn richten.«
Ich griff nach meinem Rucksack und zog die Reißverschlüsse zu. »Tote attackiert die Presse nicht«, sagte ich. »Nur die Lebenden. Und für die Leute ist ein rassistischer Polizist, der es ablehnte, den Mord an einer Schwarzen zu untersuchen, weit interessanter als ein depressiver Pathologe, der sich mit Alkohol umbrachte, weil er nicht mehr damit fertig wurde, ständig völlig unnötig menschliche Leichname verstümmeln zu müssen. Die Radley Brauerei wird Sie nicht behalten«, fuhr ich ungerührt fort, »wenn Ihr Name in fetten Schlagzeilen auf sämtlichen Titelblättern steht. Ihre netten anständigen Gäste werden über Nacht von Schlägern der Nationalen Front abgelöst werden.«
Seine Stirn war schweißfeucht. »Sagen Sie mir endlich, was Sie wollen«, zischte er. »Wir wissen doch beide, dass es hier überhaupt nicht um Annie geht.«
Hatte er Recht? Ich wusste es wirklich nicht mehr. »Ich habe zwei Jahre gebraucht, um mir selbst wieder trauen zu lernen«, sagte ich langsam, »und noch einmal zwei Jahre, um das Vertrauen zu anderen wiederzufinden. Ich habe heute noch Albträume – erschrecke immer noch zu Tode, wenn ich ein Geräusch höre, das ich nicht kenne.« Ich stieß meinen Stuhl zurück und stand auf, hängte mir den Rucksack über die Schulter. »Ich würde sagen, dass es hier sehr wohl um Annie geht. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass sie den Mut hatte, standzuhalten und zu kämpfen – während ich davongelaufen bin.« Ich ging zur Tür. »Darum ist sie tot, und ich bin am Leben.«
* * *
Brief von Dr. Joseph Elias, Psychiater am Queen Victoria Hospital, Hongkong – aus dem Jahr 1999
Queen Victoria Hospital,
Hongkong
(Psychiatrische Abteilung)
Mr. M. Ranelagh
‘Jacaranda’
Hightor Road
Kapstadt
Südafrika
17. Februar 1999
Liebe Mrs. Ranelagh,
nun geht es also endlich heim nach England! Ich bin schon jetzt gespannt, was ich von Ihnen hören werde. Ja, ich habe trotz meines unglaublich hohen Alters noch eine kleine Praxis hier im Krankenhaus, aber nur weil meine Patienten den Teufel, den sie kennen, dem vorzuziehen scheinen, den sie nicht kennen.
Was ist mit den Teufeln, die Sie plagen, liebes Kind?
Irgendwie kann ich nicht recht glauben, dass Gerechtigkeit für Annie Ihnen genügen wird. Aber wer bin ich schon, Kritik zu üben, wo doch mein Freund, der Rabbi, sagen würde: Um den Frieden zu erringen, musst du zuerst in den Kampf ziehen?
Die Notizen, die ich 1979 gemacht habe, lege ich wie gewünscht bei.
Mit herzlichem Gruß
Joseph Elias
22
Drury konnte es nicht ruhen lassen. Er mochte es nicht, wenn man ihm auf die Pelle rückte, aber noch weniger mochte er es, wenn man ihm einfach den Rücken kehrte. Ich verließ das Pub, wandte mich nach links und war etwa fünfzig Meter in Richtung vom Fischerhafen gegangen, als ich seine Schritte hinter mir hörte. Ruhiger Lichtschein aus den Häusern am Kai lag über dem Kopfsteinpflaster, und weit voraus schaukelten wie vielfarbige Glitzersteine kleine Leuchtbojen auf dem Wasser, die den heimkehrenden Seglern den sicheren Weg in den Hafen zeigten. Mir blieb ein kurzer
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