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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Schatzhöhle, wie aus ‘Aladdin und die Wunderlampe’. Sie und ihre Mutter haben alles gehortet. Das vordere Zimmer war bis obenhin voll mit westindischen und mittelamerikanischen Objekten, die Annies Vater in den Vierziger- und Fünfzigerjahren nach England mitgebracht hatte. Einige waren recht wertvoll, besonders die Stücke aus Gold. Ich erinnere mich an eine kleine Figurine, die auf dem Kaminsims stand; sie hatte Augen aus Smaragd, und die Lippen waren aus Rubinen.«
    »Ich wusste gar nicht, dass es einen Mr. Butts gab«, sagte ich überrascht. »Ich dachte immer, er hätte die Frau mit dem Kind sitzen lassen, als es noch sehr klein war.«
    »Aber nein, keine Spur! Annies Vater ist irgendwann Ende der Fünfzigerjahre an Lungenkrebs gestorben. Ich habe ihn nicht mehr kennen gelernt, aber einer meiner Kollegen erinnerte sich sehr gern an ihn. Er hieß George. Er war früher bei der Handelsmarine gewesen und hatte immer eine Anekdote über seine Reisen um die ganze Welt auf Lager. Er heiratete Annies Mutter in den Dreißigern in Jamaika und holte sie und Annie kurz nach dem Krieg nach England, in das Haus in der Graham Road.« Sie lächelte wieder. »Meinem Kollegen hat er erzählt, dass er sie nicht mitbringen konnte, solange seine Eltern noch am Leben waren, weil sie mit einer Schwarzen als Schwiegertochter nicht einverstanden gewesen wären.«
    Ich schüttelte staunend den Kopf, als mir klar wurde, wie lückenhaft noch immer mein Wissen über diese Frau war, mit der ich allerdings selbst nie ein Wort gewechselt hatte. Ob Annies Nachbarn gewusst hatten, dass sie halb weiß war? Und wenn ja, hätte das irgendetwas geändert? Ich verneinte im Stillen beide Fragen. Diese Leute waren noch später in die Graham Road gekommen als Sam und ich... und Annie war zu dunkelhäutig gewesen, um nicht auf Anhieb für eine Schwarze gehalten zu werden.
    »Das alles ist mir völlig neu«, sagte ich zu Sheila. »Ich hatte keine Ahnung, dass ihr Vater ein Weißer war. Wie kommt es, dass sich nach ihrem Tod keine Erben gemeldet haben? Sie muss doch Verwandte in England gehabt haben?«
    »Offenbar nicht. Mein Kollege hat mir erzählt, dass George einen jüngeren Bruder hatte, der im Nord-Atlantik umgekommen ist, als sein U-Boot torpediert wurde. Aber sonst...« Sie brach mit einem Achselzucken ab. »Es ist tragisch, aber nicht ungewöhnlich. In den beiden Weltkriegen sind ja ganze Familien ausgelöscht worden, vor allem natürlich die, in denen es Söhne gab, aber keine Töchter.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und trat mit offenkundigem Widerstreben ins Freie hinaus. »Ich muss wirklich los. Ich muss noch zwei Hausbesuche machen.« Aber sie zögerte, als wollte sie diese Verbindung zur Vergangenheit nicht abreißen lassen. »Glauben Sie auch heute noch, dass Annie ermordet wurde?«
    »Ich weiß es.«
    »Wieso?«
    Ich ging ihr voraus den Gartenweg hinunter. »Ich kann es nicht erklären. Ich habe es einmal versucht, aber da meinten alle nur, ich wäre genauso verrückt, wie sie es gewesen war. Jetzt versuch ich es gar nicht mehr.«
    »Ich meinte, weshalb hätte irgendjemand sie töten sollen?«
    Ja, das war die große Frage. »Weil sie anders war«, meinte ich. »Vielleicht hätte man sie in Ruhe gelassen, wenn sie verrückt gewesen wäre, aber nicht schwarz – oder schwarz, aber nicht verrückt... Manchmal denke ich, sie verachteten sie wegen ihrer Hautfarbe, dann wieder denke ich, sie hatten Angst vor ihr.«
    Wir blieben neben ihrem Wagen stehen. »Mit anderen Worten, Sie glauben, dass einer ihrer Nachbarn sie umgebracht hat?«
    Ich sagte nichts, antwortete nur mit einem kleinen Achselzucken, das sie auslegen konnte, wie sie wollte.
    Sie sah mich einen Moment schweigend an, dann öffnete sie die hintere Tür ihres Wagens und legte ihre Tasche auf den Rücksitz. »Sie war nicht verrückt«, sagte sie ruhig und sachlich. »Sie litt am Tourette-Syndrom, daher die Grimassen und die Selbstgespräche, aber sie war in jeder anderen Hinsicht so normal wie Sie und ich.«
    »Das ist aber nicht der Eindruck, den der Coroner bei der Verhandlung vermittelte.«
    Sheila Arnold nickte mit Bedauern. »Der Mann war ein Idiot. Er wusste absolut nichts über das Tourette-Syndrom und war auch nicht daran interessiert, etwas darüber zu erfahren. Es hat mich immer bedrückt, dass ich damals nicht persönlich ausgesagt habe, aber ich war schon vor ihrem Tod zu einem einjährigen Studienurlaub in die USA abgereist und hatte keine Ahnung, dass der

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