Schlangenlinien
über Annie stets zurückgescheut. Ich erinnere mich seiner wütenden Verlegenheit, als ich mir auf einer Party in Hongkong einen Chief Superintendent der dortigen Polizei schnappte und ihm mit einer einstündigen Schimpfkanonade auf die Polizei von Richmond und ihre Unfähigkeit die Hölle heiß machte. Sam hatte mich schließlich weggezerrt, und als wir wieder zu Hause waren, nahm er kein Blatt vor den Mund. »Bist du dir eigentlich bewusst, wie idiotisch du wirkst, wenn du anfängst, von diesem verdammten Weib zu reden?«, schnauzte er mich wütend an. »Du kannst doch nicht wildfremden Leuten Vorträge darüber halten, dass die Augen die Spiegel der Seele sind, wenn dich einer ernst nehmen soll. Du bist meine Frau, Herrgott noch mal, und die Leute fangen schon an, uns aus dem Weg zu gehen, weil sie den Eindruck haben, dass du genauso irre bist, wie sie es war.«
Zwei Jahrzehnte später und nachdem er sich des Langen und Breiten über den merkwürdigen Zufall des neuerlichen Zusammentreffens mit Sheila Arnold ausgelassen hatte, zeigte er erstaunliches Interesse daran, zu erfahren, worüber Sheila Arnold und ich gesprochen hatten. Ich glaubte zu wissen, wie das kam. Alles, was ich sagte, zog er mit Vorliebe in Zweifel, aber das Wort eines Arztes, besonders der weiblichen Version, war für ihn die reine Offenbarung.
»Sieht sie es wie du? Glaubt sie auch, dass Annie ermordet wurde?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Sie hat nur gesagt, dass das Haus ausgeplündert wurde.«
»Wann?«, fragte er nach einem Moment der Überlegung. »Vor Annies Tod oder hinterher?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Wenn es hinterher passiert ist«, erklärte er geduldig, »dann heißt das, es muss jemand gewusst haben, dass sie draußen auf der Straße lag, und die Gelegenheit beim Schopf gepackt haben, um einzubrechen.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Was wiederum heißen würde, dass sie viel länger da draußen lag, als der Coroner festgestellt hat.«
»Ja, vielleicht«, stimmte ich zu, bevor ich in die Küche ging, um zu sehen, was ich uns zum Mittagessen machen könnte. Alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht ablegen, und das Thema Annie Butts war zwischen uns so lange tabu gewesen, dass es nicht leicht war, das alles wieder auszugraben.
Sam kam mir nach. »Und wenn es
vor
ihrem Tod passiert ist«, fuhr er fort, »ist das vielleicht eine Erklärung dafür, dass sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hat. Es muss doch ein wahnsinniger Schock für sie gewesen sein, nach Hause zu kommen und zu sehen, dass alle ihre sorgsam gehüteten Schätze verschwunden waren. Die arme Seele! Ich habe nie verstanden, warum sie sich an dem Abend so voll laufen ließ. Ich meine, wir haben sie ja ab und zu ziemlich angesäuselt erlebt, aber doch nie so stockblau, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat.« Er lächelte entschuldigend. »Es ist mir immer schwer gefallen zu glauben, dass sie von einem ihrer Nachbarn unter den Lastwagen gestoßen worden sein soll. Gut, ein paar von den Leuten waren wirklich widerlich, und einige haben ihr das Leben mit den ständigen Anzeigen zur Hölle gemacht, aber das ist doch was ganz anderes als kaltblütiger Mord.«
Ich machte den Kühlschrank auf und überlegte, was ich aus einer halben Dose Tomaten, einer Ecke uraltem Käse und einem Eisbergsalat zusammenmixen könnte.
»Sie war einen Meter dreiundsiebzig groß und wog vierundachtzig Kilo«, sagte ich, »und war genau 0,15 Promille über dem Limit – das entspricht fünf Schnäpsen oder fünf großen Bieren. Da kann man doch beim besten Willen nicht von ‘sinnlos betrunken’ reden.« Ich nahm die Dose aus dem Kühlschrank und suchte nach Schimmel. »Im Gegenteil, wahrscheinlich war sie nicht einmal beschwipst. Sie war Alkohol gewöhnt und konnte vermutlich doppelt so viel trinken wie wir anderen, bevor sich bei ihr eine Wirkung zeigte.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Schau dich doch mal selber an, wenn du mir nicht glaubst. Du wiegst sechs Kilo weniger und bist fünf Zentimeter größer, und du kannst acht große Biere wegstecken, ehe du peinlich wirst.«
Er zog sich augenblicklich in sein Schneckenhaus zurück. Wenn er das Thema zur Sprache brachte, so war das ganz in Ordnung, aber wehe, ich wagte es, auf Grund besserer Informationen die Fakten anzuzweifeln. »Alle sagten, sie sei stockbetrunken gewesen«, knurrte er unwirsch.
»Gut, nehmen wir mal an, das stimmt«, sagte ich. »Was macht dich so sicher, dass nicht
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