Schlangenlinien
gekommen. Auf der einen Seite war meine Mutter, der es scheißegal war, ob ich nach Hause kam oder nicht – und auf der anderen war der Pfarrer, der mir dauernd Vorträge darüber hielt, wie Jesus mein Leben verändern könnte. Mrs. Stanhope war die Einzige, die halbwegs vernünftig war, aber sie wollte mich immer umarmen und drücken, und da war ich nicht gerade scharf drauf.« Er beugte sich vor, wie um uns zu einer Einheit zusammenzuschließen, von der das Stimmengewirr rundherum abprallte. »Ich hätt nichts dagegen gehabt, wenn
Sie
mich mal umarmt hätten.« Mit einem Augenaufschlag und belustigtem Blick sah er mich an. »Aber Sie machten nie die geringsten Anstalten.«
»Ich wäre auf der Stelle rausgeflogen.«
»Sie sind aber nicht rausgeflogen, als Sie Alan Slater in den Arm genommen haben.«
»Wann habe ich Alan in den Arm genommen?«
»Als er damals so fürchterlich geheult hat, weil die Schulschwester wieder Läuse bei ihm im Haar gefunden hatte. Sie haben ihm den Arm um die Schulter gelegt und gesagt, Sie würden ihm ein Shampoo geben, mit dem er die Biester loswerden würde. Für mich haben Sie das nie getan.«
Ich konnte mich an diese Geschichte nicht erinnern – meiner Erinnerung nach hatte ich Alan nur ein einziges Mal den Arm um die Schultern gelegt –, und ich fragte mich, ob Michael mich nicht mit einer anderen Lehrerin verwechselte.
»Hatten Sie denn jemals Läuse? Sie sahen immer so blitzsauber und ordentlich aus, während der arme Alan meistens einen Geruch verbreitete, als wäre er gerade aus der Kloake heraufgekrochen.«
»Er war ein Dreckschwein«, sagte Michael wegwerfend. »Ich hab ein paarmal in der Apotheke Prioderm für ihn geklaut, aber er war zu faul, es zu benutzen, bis dann die Schwester wieder Nissen in seinem Haar gefunden hat.« Er sah mich mit einem schiefen Lächeln an. »Es hat mich immer unheimlich geärgert, dass alle mich so adrett und sauber fanden und Alan bemitleideten, weil er aus so einer beschissenen Familie kam. Ich hab mit sechs Jahren angefangen, meine Kleider selbst zu waschen, aber die Anerkennung hat immer nur meine Mutter eingeheimst.«
Flüchtig schoss mir die Frage durch den Kopf, ob die Umarmung, die der eine von mir bekommen hatte und der andere nicht, daran schuld war, dass der eine in ein geregeltes Leben gefunden hatte und der andere fünfzehn Jahre absitzen musste. »Die meisten Leute glaubten, sie wäre eine bessere Mutter als Maureen«, sagte ich, »aber eine Referenz war das natürlich noch lange nicht. Auf einer Skala von eins bis zehn hätte Maureen null Punkte bekommen.«
»Aber sie war wenigstens keine Nutte«, sagte er bitter. »Das haut ganz schön rein, wenn die eigene Mutter eine Nutte ist. Wussten Sie das damals?«
»Ich wusste gar nichts, Michael. Ich war sehr naiv und sehr dumm, und wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich alles anders machen.« Ich sah ihn einen Moment lang schweigend an. »Sie waren zu weit für Ihr Alter«, sagte ich behutsam. »Von Alan fühlte ich mich nie auf die Weise bedroht, wie ich mich von Ihnen bedroht fühlte. Ich glaubte nicht, dass Sie sich mit einer freundlichen Umarmung begnügt hätten.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Sie wären mir vielleicht nicht genug gewesen, aber ich hätte viel zu viel Angst gehabt, um was zu tun.«
»So habe ich Sie damals nicht gesehen«, sagte ich mit einem kleinen Lachen. »Sie haben die Frauen förmlich gewittert, die für Sie anfällig waren – wie Wendy Stanhope. Sie bekommt immer so einen melancholischen Blick, wenn sie von Ihnen spricht. Ich bezweifle, dass ihre Gefühle rein mütterlicher Natur waren.«
»Wie war es mit Ihren?«
»Keine Ahnung. Ich habe nie darüber nachgedacht.«
»Aber Sie haben mich gemocht?«
Ich hätte gern gewusst, warum das so wichtig war.
»O ja.«
»Und Alan? Haben Sie den gemocht?«
»Nein«, antwortete ich mit Entschiedenheit.
»Aber er war scharf auf Sie«, sagte er. »Er hat immer damit angegeben, dass Sie die Finger nicht von ihm lassen könnten. Sie hätten damals, als Sie ihn an Ihrer Handtasche erwischten, nur deshalb nicht die Polizei geholt, weil Sie Angst gehabt hätten, er würde bei den Bullen über den heißen Sex auspacken, den er mit Ihnen hatte.« Er musterte scharf mein Gesicht, und was er sah, schien ihn zu beruhigen. »Ich hab immer gewusst, dass das nur ein Haufen Stuss war, aber trotzdem hat's mir gestunken, wenn ich gesehen hab, wie Sie sich bemüht haben, nett zu ihm zu sein.«
Ich
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