Schlangenlinien
Erklärung dafür.« Er schüttelte den Kopf. »Schon schlimm, wenn man sich's mal überlegt.«
»Was?«
»Dass unsere beiden Familien in der ganzen Straße die einzigen waren, wo's immer Ärger gab. Wir hatten die gleichen Chancen wie alle anderen, aber wir haben sie nicht genutzt. Können Sie sich vorstellen, dass wir zusammen über zwanzig Jahre gesessen haben müssen – Derek und ich und Alan?«
»Tja, die Macht der Gewohnheit«, sagte ich.
»Genau. Wie bei Rosie.«
»Wieso? Was ist ihr denn passiert?«
»Sie ist an einer Überdosis gestorben. Vor fünf Jahren, in Manchester«, sagte er bitter. »Irgend so ein Scheißdealer hat ihr ungestreckten Stoff verkauft, es war also wahrscheinlich ein Unfall und kein Selbstmord. Sie hat mit einer Bande Hausbesetzer in irgendeiner abbruchreifen Bude gehaust. Die Polizei hat ihre Leiche am Tag, nachdem ihre Kumpel das Haus geräumt hatten, unter einer Matratze gefunden. Ihren Berechnungen zufolge war sie da schon drei Tage tot, aber keinen von ihren Kumpeln hat das gekümmert – die haben sie einfach liegen lassen.«
»Das tut mir Leid.«
Er nickte. »Ja, es war ganz schön traurig. Bridget hat immer wieder versucht, sie in einem Therapieprogramm unterzubringen, aber Rosie konnte ohne den Stoff nicht leben. Sie sagte immer, sie würde mal an einer Überdosis krepieren, und so ist es ja dann auch gekommen.«
»Was hat Ihr Vater dazu gesagt?«
»Gar nichts. Ich bin nicht mal sicher, ob er überhaupt weiß, dass sie tot ist. Die Mädchen haben den Kontakt zu ihm abgebrochen, nachdem er zu meiner Mutter gezogen war.«
»Hätten Sie es ihm nicht sagen können?«
»Bestimmt nicht. Der hat mich doch rausgeschmissen, als er sich bei uns einquartiert hat. Da hab ich mich dann mit Rosie und Bridget zusammengetan.« In plötzlichem Zorn stieß er beide Hände zwischen seine Knie. »Er hasst mich. Er hat meiner Mutter eingeredet, dass ich nichts tauge«, sagte er mit Erbitterung, »obwohl ich der Einzige war, der sich um sie gekümmert hat, als es darauf ankam.«
»Wann war das?«
Er wandte sich ab, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. »Das ist nicht wichtig.«
Ich war vom Gegenteil überzeugt, hielt es aber für sinnlos, ihn zu drängen, da er offensichtlich nicht darüber sprechen wollte. »Was haben Sie denn getan, um sich solchen Hass von Geoffrey Spalding zuzuziehen?«
»Ich hab Rosie und Bridget gesagt, dass er bei meiner Mutter Stammkunde war. Er war ein ganz falsches Schwein – hat sich immer als den großen Heiligen hingestellt, der seine Arbeit aufgegeben hatte, um sich um seine kranke Frau zu kümmern, und in Wirklichkeit war er die ganze Zeit bei uns drüben. Die Mädchen haben sich ganz allein um ihre Mutter gekümmert. Geoff hat keinen Finger gerührt und sich höchstens beschwert, wenn sein Abendessen zu spät auf dem Tisch stand. Vivienne war eine nette Frau. Ich hab nachmittags oft bei ihr gesessen, und es hat mich immer total wütend gemacht, wenn sie Geoff in den Himmel gehoben hat, als wäre er der beste Ehemann der Welt.«
»Hat sie nie von seiner Beziehung zu Ihrer Mutter erfahren?«
»Ich glaube nicht. Ich glaube, er hat ihr bis zum Ende was vorgelogen. Die Mädchen und ich haben ihr jedenfalls nie was gesagt. Das hätten wir gemein gefunden.«
Schweigen breitete sich zwischen uns aus, während ich überlegte, was ich als Nächstes sagen sollte, und augenblicklich drangen unerwünschte Geräusche auf uns ein – das heisere Geschrei der Möwen, das durch die offenen Fenster schallte – Gelächter – das Weinen eines Babys aus der Spielecke für die Kinder. Prompt platzte ich mit der einen Frage heraus, die ich eigentlich unbedingt hatte vermeiden wollen: »Was um Gottes willen tun Sie hier, Michael? Wie bringt ein offensichtlich gutherziger Mensch wie Sie es fertig, einen völlig unschuldigen Menschen wie diesen Fremden im Postamt brutal zusammenzuschlagen? Ich verstehe das nicht.«
»Ich brauchte das Geld«, sagte er schlicht, »und ich fand die Idee damals gut.«
»Und jetzt?«
Er lachte bitter. »Jetzt finde ich, dass ich in meinem ganzen Leben nichts Dümmeres getan hab. Ich wollte ihr ja eigentlich auch nur Angst machen – ihr die Pistole an den Kopf drücken –, aber dann hat sie angefangen zu schreien, und ich hab einfach durchgedreht.« Er schwieg düster grübelnd. »Sie hat mich an Alans Mutter erinnert«, sagte er unvermittelt. »Dieses gemeine Gesicht – drum hab ich zugeschlagen. Ich hab diese Frau wirklich
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