Schlangenlinien
folglich ist eine Anklage heute kaum mehr als eine Formalität, es sei denn, Sie beabsichtigen, die Erwachsenen vor ein Jugendgericht zu stellen. Auch die Anklage gegen Maureen Slater kann man vergessen; sie kann ja nur Erfolg haben, wenn der Juwelier die Frau eindeutig identifiziert – und das nach zwanzig Jahren!
Ich vermute, das sind lauter Placebos, die mich für die nächsten Monate ruhig stellen sollen, während man so tut, als führte man die Ermittlungen wegen Mordes an Ann Butts weiter. Wenn das zutrifft, so hat der Commissioner mein Engagement für die Gerechtigkeit und für meine Freundin gefährlich unterschätzt. Ich wiederhole, was ich zu Beginn des Berichts geschrieben habe, den ich im September vorlegte:
Ann Butts wurde ermordet, weil in der Graham Road Rassenhass und die Verachtung Behinderter uneingeschränkt gedeihen konnten.
Ich habe nicht die Absicht, diese Angelegenheit ruhen zu lassen. Wenn ich nicht innerhalb einer Woche befriedigendere Nachrichten von Ihnen erhalte, werde ich mich an die Presse wenden.
Hochachtungsvoll
M. Ranelagh
Epilog
Der Herbst war launisch in diesem Jahr in Dorchester, mit südwestlichen Winden, die vom Ärmelkanal landeinwärts brausten und die Bäume um unser Haus zu rasendem Tanz aufpeitschten. Sam und ich verbrachten Tage damit, das Laub zu hohen rostroten Haufen zusammenzurechen, und als wir endlich fertig waren, kehrte der Wind zurück und fegte sie alle wieder auseinander. Aber das machte nichts; es war so lange her, seit wir das letzte Mal die leuchtenden Farben eines englischen Herbstes erlebt hatten, dass es schon Befriedigung genug war, einfach draußen im Freien zu sein.
Die Jungen besuchten eine Privatschule in der Nähe, um sich auf das Universitätsstudium im folgenden Jahr vorzubereiten. Sie waren älter als ihre Mitschüler, aber sie zogen beide dieses Jahr des gemächlichen Übergangs dem kühnen Sprung ins kalte Wasser vor. Und auch Sam und mir war es so recht. Wir waren nicht so ganz bereit, sie ihrer Wege gehen zu lassen, solange wir noch versuchten, wieder Fuß zu fassen. Mich plagten große Ängste, als wir unser gesamtes Vermögen weggaben, um das Haus zu kaufen. Würde uns das Dach über dem Kopf fortfliegen, noch ehe wir dazu kämen, es zu reparieren? War die Nassfäule unter den Bodendielen so schlimm, wie es aussah? Aber Sam ließ sich nicht unterkriegen, und wir schöpften Vertrauen aus seinem unbesiegbaren Optimismus.
In den kurzen Herbstferien fuhr mein Vater mit den Jungen ins schottische Hochland, um ihnen die wahre Heimat der Ranelaghs zu zeigen, und dafür durften Sam und ich den Besuch meiner Mutter genießen. Hinter diesem etwas machiavellistischen Arrangement meines Vaters steckte die Idee, dass wir alle einander so etwas besser kennen lernen würden – was in gewisser Weise auch geschah: Meine Mutter nämlich amüsierte sich königlich damit, Sam bei seinen Renovierungsarbeiten ins Handwerk zu pfuschen und mir klar zu machen, dass ich bei Vorhangstoffen überhaupt keinen Geschmack hätte.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass das Verhältnis zu meiner Mutter besser wurde. Unsere Rivalität und ständige Kritik aneinander ließ sich nicht über Nacht aus der Welt schaffen. Sie fand, ich sei Sam immer noch eine schlechte Ehefrau, nähme keine Rücksicht auf sein krankes Herz, dränge ihn, zu viel zu arbeiten, koche ihm nichts Ordentliches ... und die Jungen seien, wenn auch im Moment abwesend, immer noch viel zu schnodderig und müssten dringend mal zum Friseur gehen. Was meine Mutter anging – nun, sie würde weiterhin jeden Moment alles unter Kontrolle haben müssen, unerwünschte Ratschläge geben und alle um sich herum nach ihrer Pfeife tanzen lassen, während sie die Rolle der armen Märtyrerin spielte. Aber die Funken flogen nicht mehr ganz so häufig wie früher, vielleicht also machten wir Fortschritte.
Immer noch hielt sich bei ihr eine gewisse Eifersucht auf Wendy Stanhope, die häufiger bei uns zu Besuch war als sie. Einmal machte ich die beiden miteinander bekannt, aber das war ein Fehler. Sie waren einander zu ähnlich, zwei eigenwillige Frauen mit entschiedenen Ansichten, die so unterschiedlich waren, dass sie Hoffnung auf Übereinstimmung nicht zuließen. Wendy hatte ein Herz für junge Menschen und war stets bereit, ihnen Freiraum zu geben, während meine Mutter sie nur an die Leine legen und drillen wollte. Wendy wäre niemals so unhöflich gewesen, nach dieser einen Begegnung abfällige Bemerkungen zu
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