Schlangenlinien
schweifte zu Luke und Tom, die darüber diskutierten, was für eine CD sie als Nächstes auflegen sollten. »Ich würde sagen, Ihre Söhne sind auch ganz schöne Glückspilze.«
Ich erkannte plötzlich, wie verwundbar er war, und schämte mich, ihn so zu benutzen. Bis zu diesem Abend war er ein Name auf dem Computerbildschirm gewesen, ein vergessener Junge aus früherer Zeit, der in der unschuldigen Überzeugung, ein anderer brauche bei einem albernen IT-Projekt seine Hilfe, auf eine E-Mail geantwortet hatte. Er hatte keine Schuld an Annies Tod, und ich fragte mich, ob er überhaupt wusste, dass 1978 in der Graham Road eine Schwarze ums Leben gekommen war. Der Name »Ranelagh« sagte ihm offensichtlich nichts, und das ließ vermuten, dass sowohl Annie als auch ich längst vergessen waren, als Danny alt genug gewesen war, um begreifen zu können, dass in seiner Straße eine Frau ums Leben gekommen war und eine andere ihre Nachbarn des Mordes aus rassistischen Motiven beschuldigt hatte.
»Luke und Tom würden vielleicht sagen, dass Sie der Glückspilz sind«, erwiderte ich auf seine Bemerkung.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»So wie die beiden aufgewachsen sind, werden sie es nie nötig haben, so viel Kreativität und Engagement aufzubringen wie Sie, um sich der Welt zu beweisen. Internalisierter Schmerz bewegt mehr als Sicherheit und Zufriedenheit. Menschen, denen es gut geht, nehmen das Glück als etwas Selbstverständliches hin. Gequälte Menschen kämpfen darum, es zu erlangen, indem sie ihrem Inneren Ausdruck geben. Zumindest haben Sie die Chance, etwas Großes zu werden.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ja.«
»Warum machen Sie dann nicht Ihren Söhnen das Leben zur Hölle?«
In dieser Frage steckte so viel Einfalt, dass ich lächeln musste. Sie basierte auf der Annahme, elterliche Liebe lasse sich nach Belieben ein- und ausschalten – aber bei ihm war das in der Kindheit vielleicht wirklich so gewesen.
»Sollten Sie mich nicht zuerst fragen, ob ich es für vernünftig halte, wenn eine Mutter sich wünscht, dass aus ihren Kindern etwas Großes wird?«
»Warum sollte das nicht vernünftig sein?«
»Weil die Chancen, dass dieser Ehrgeiz erfüllt wird, gering sind. Schmerzvolle Erfahrungen sind keine Garantie für den Erfolg; sie erzeugen nur das Bedürfnis, etwas zu ändern. Alles Weitere ist Begabung. Im Übrigen bin ich, was Luke und Tom angeht, von reinem Egoismus geleitet. Ich möchte, dass sie mich mögen.«
Er war nicht beeindruckt. »Jeder handelt aus Egoismus«, sagte er. »Auch Luke und Tom. Sie benehmen sich so, wie Sie es von ihnen erwarten, weil sie hoffen, dafür etwas zu bekommen. Alan ist vor meinem Vater in die Knie gegangen, weil er nicht verprügelt werden wollte. Luke und Tom geben vor Ihnen wahrscheinlich klein bei, weil sie Geld wollen.«
Ich nickte. »Oft, ja.«
»Alans Kinder sind genauso. Die sind gerade erst aus den Windeln raus, aber sie wissen jetzt schon, wie sie ihn nehmen müssen.« Er ließ seinen Zigarettenstummel auf die Terrasse hinunterfallen und trat ihn mit dem Absatz aus. »Sie brauchen nur zu heulen und zu sagen, dass sie ein Eis haben wollen, und schon leert er seine Taschen aus. Ich hab ihm gesagt, dass er sich zum Idioten machte, aber man kann überhaupt nicht vernünftig mit ihm reden, weil ihm die Erfahrungen aus seiner eigenen Kindheit noch so tief in den Knochen sitzen.«
Ich fragte mich, ob Danny bewusst war, wie wirr seine Ansichten über Kindererziehung waren, und was er mit »vernünftig« meinte. Vermutlich: Wer mit der Rute spart, verzieht das Kind. Warum gerade er wie so viele andere der Überzeugung war, in der Erziehung wäre Härte gesünder als Güte, war mir schleierhaft.
»Wie steht Ihre Mutter denn dazu?«, fragte ich.
»Ach, das weiß der Himmel. Die ist doch mit Prozac voll gepumpt«, sagte er wegwerfend. »Da kommt's immer drauf an, wie sie gerade drauf ist. Bei der kann man von Glück reden, wenn sie überhaupt aus dem Bett kommt – glauben Sie im Ernst, dass so jemand zu irgendetwas eine Meinung hat?« Er schwieg, den Blick zu Boden gerichtet.
»Tut mir Leid«, sagte ich wieder.
»Ja, schöne Scheiße.« Er lachte bitter. »Jetzt sind Sie wohl ziemlich enttäuscht, was?«
»Worüber?«
»Na, dass ein Typ wie ich sich auf Lukes E-Mails gemeldet hat. Sie haben sich doch bestimmt was Besseres erhofft.«
»Solche Urteile maße ich mir nicht an«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Wenn ich es täte, müsste ich selbst ein Etikett
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