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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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schüttelte den Kopf. »Das kann nicht mein Bruder gewesen sein«, erklärte er. »Alan ist jetzt fünfunddreißig. Sie müssen jemand anders im Kopf haben.«
    »Nein«, versicherte ich. »Es war Alan, ganz zweifellos. Er war 1978 in meiner Klasse, damals war er vierzehn. Ganz schön anstrengend, der Junge«, schloss ich mit einem Lachen, »aber inzwischen ist er wahrscheinlich ruhiger geworden.«
    Danny musterte mich einen Moment mit scharfer Aufmerksamkeit, ehe er eine Packung Zigaretten aus seiner Tasche zog. »Dann haben Sie anscheinend ein leichtes Leben gehabt«, stellte er eher abfällig fest. »Meine Mutter ist knapp über fünfzig, aber sie schaut verdammt viel älter aus als Sie.«
    Ich lächelte. »Das kommt darauf an, ob man das Lehrerdasein leicht findet.
Ich
tu's nicht, aber ich habe nie
Kunst
unterrichtet. Vielleicht ist das weniger anstrengend, als einem Haufen junger Leute, die ganz anderes im Kopf haben, Shakespeare nahe zu bringen.«
    Er biss sofort an, und ich hörte mir geduldig fünf Minuten der Beschwerde darüber an, was für eine bodenlose Zumutung es für einen Künstler sei, sich mit Fronarbeit sein Brot verdienen zu müssen; was für ein tödlicher Stress, sich täglich mit arroganten Schülern herumzuschlagen, die nicht einen Funken Kreativität im Leibe hätten; was für ein Pech für ihn, dass er in einem Land lebte, wo Kultur nichts galt, und er nicht einmal ein Stipendium bekam, um seine Kunst zu machen, sondern eine Klasse Hirntoter unterrichten müsse, um sich überhaupt über Wasser halten zu können...
    Ich nickte teilnahmsvoll, als er innehielt, um Luft zu holen. »Und Ihre Familie ist wohl nicht in der Lage, Ihnen zu helfen?«
    »Ich bin nicht verheiratet.«
    »Ich meinte Ihre Eltern. An Ihren Vater kann ich mich noch gut erinnern.« Ich dachte an die Fotografien von Derek Slater, die Wendy Stanhope mir ausgeliehen hatte. »Dunkles Haar, gut aussehend. Sie sind ihm sehr ähnlich.«
    Er war nicht anfällig für Schmeicheleien. »Ich hab nur noch meine Mutter«, sagte er, »und die lebt von einer Behindertenrente.« Er bot mir eine Zigarette an, die ich mit einem Kopfschütteln ablehnte. Nachdem er sich selbst eine angezündet hatte, fügte er hinzu: »Mein Vater hat uns schon vor Jahren verlassen... ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie er ausgesehen hat.«
    »Das tut mir Leid.«
    Er zuckte die Achseln. »Es war das Beste, was uns passieren konnte«, stellte er sachlich fest. »Er hat uns alle regelmäßig verprügelt. Alan hat das meiste abgekriegt. Dad hat ihn immer auf den Kopf gedroschen, wenn er unsere Mutter beschützen wollte. Er hat heute noch die Narben.«
    »Ja, ich habe mir manchmal meine Gedanken gemacht«, sagte ich gleichermaßen sachlich. »Er kam oft grün und blau geschlagen zur Schule, aber er behauptete immer, er hätte sich mit den Jungs einer verfeindeten Bande geprügelt. Sie sollten mal den anderen sehen, sagte er jedes Mal.«
    Zum ersten Mal lächelte Danny. »Er ist ein guter Kerl. Was der damals aushalten musste! Als er fünfzehn war, hat er eines Tages einen Baseballschläger gepackt und meinem Vater damit eins übergebraten. Da ist Dad dann abgehauen.« Wieder ein Achselzucken. »Ich kann mich nicht an meinen Vater erinnern, aber alle sagen, was für ein gemeiner Hund er war. Vor ein paar Jahren hat er sich mal bei einer von meinen Schwestern gemeldet, aber nur weil er Geld brauchte. Sally wollte Alan überreden, ihm zu helfen, aber der hat abgelehnt. Und seitdem haben wir nichts mehr gehört.«
    »Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
    Ein kurzes Zögern. »Irgendwo in London, glaub ich.«
    Im Gefängnis?, dachte ich. »Und was ist aus Alan geworden?«, erkundigte ich mich in teilnahmsvollem Ton, der zeigen sollte, dass das Schicksal meines ehemaligen Schülers mich mehr interessierte als das seines Vaters. »Was macht er? Ist er verheiratet?«
    Danny nickte. »Er hat zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Schimpft nie – gibt ihnen nicht mal eins hinter die Ohren.« Er paffte missmutig an seiner Zigarette. »Das ist der Wahnsinn, wenn ich ihn besuche. Er wohnt in so einem kleinen Haus in Isleworth, echt stark, sag ich Ihnen, und seine Frau ist große Klasse. Sie heißt Beth – nichts Aufregendes, wissen Sie, ich mein, vom Aussehen her –, aber jedes Mal, wenn ich da hinkomm, denk ich, so müssen Familien sein – alle mögen sie sich, und die Kinder sind so richtig gut aufgehoben. Da wird einem erst bewusst, was einem gefehlt hat.« Sein Blick

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