Schlangenlinien
»Wer ist der dunkelhaarige Junge, mit dem du dich unterhalten hast?«, fragte er mit einer Kopfbewegung in Dannys Richtung. »Ich hab euch vom Fenster aus gesehen. Er hatte dir ja offenbar eine Menge zu erzählen.«
»Er heißt Danny Slater«, antwortete ich. »Er arbeitet in dem Skulpturenpark auf Portland.«
»Zufällig mit Derek Slater verwandt?«
»Sein Sohn«, sagte ich ruhig. »Erinnerst du dich an Derek?«
»Nein. Ich habe in deinem Rucksack gekramt.« Er krümmte die Schultern wie ein Boxer in Abwehrstellung. »Und mach mir jetzt deswegen bloß keine Vorhaltungen. Wenn du nicht wolltest, dass ich darin herumkrame, hättest du ihn nicht auf dem Bett liegen lassen sollen.«
»Stimmt«, sagte ich und hoffte, er war so vernünftig gewesen, alles durchzusehen. Er war jahrelang in Unwissenheit glücklich und zufrieden gewesen; nun würde aber das Gefühl, nicht die volle Wahrheit zu kennen, unablässig an ihm nagen.
»In Bezug auf die Pfarrersfrau hattest du Recht. Sie macht gute Fotos. Der Junge da ist seinem Vater, wie er vor zwanzig Jahren war, wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Er hat auch viel von seiner Mutter«, wandte ich ein.
»Maureen Slater, richtig?«
Ich nickte.
»Hm, ja, die hab ich nicht gekannt. Ich hab praktisch niemanden auf den Fotos erkannt, außer Julia Charles und Libby Williams. So eine Blonde noch, die hin und wieder ins Pub kam, glaube ich, aber abgesehen davon«– er schüttelte den Kopf –»waren sie mir alle fremd.«
Ich hätte gern gewusst, wie viel von der Korrespondenz er gelesen hatte und wie viel er glaubte, dass ich unterschlagen hatte. Wenn er die Wahrheit wüsste, würde ihn das niederschmettern.
Auf der Suche nach Luke und Tom ließ er seinen Blick zerstreut über das Getümmel hinter dem Haus schweifen. »Was die Jungen da an Informationen über die Graham Road zusammengetragen haben, ist wirklich beachtlich. Wie lange haben sie daran gearbeitet?«
»Seit deinem Infarkt.«
Er lächelte dünn. »Unter der Prämisse, dass du auf jeden Fall nach England zurückkehren würdest, ob mit mir oder ohne mich?«
»So etwa, ja.«
Er schwieg, als überlegte er, ob es klug sei, seine nächste Frage zu stellen. Er wusste so gut wie ich, dass es besser war, keine Brücken abzubrechen, aber sein Bedürfnis, sich Gewissheit zu verschaffen, war stärker als seine Vorsicht. »Hast du ihnen erzählt, dass ich dich damals verlassen habe?«
»Nein. Ich habe ihnen erzählt, dass Annie ermordet wurde und ich versuchen wolle, das Ermittlungsverfahren wieder aufzurollen. Sonst nichts.«
Er starrte in sein Weinglas. Sein Mund zuckte auf seltsame Weise, so, als versuchte er, ungewohnte Worte zu bilden. Aber am Ende sagte er nur »Danke«.
* * *
Aussage von Mrs. M. Ranelagh aus dem Jahr 1979 bezüglich eines mutmaßlichen Überfalls, begangen von Derek Slater, wohnhaft Graham Road 32, Richmond
Polizeibericht
Datum: 25.1.1979 – Zeit: 10.32 – Beamter: P. S. Drury, Polizeidienststelle Richmond
Zeugin: Mrs. M. Ranelagh, Graham Road 5, Richmond, Surrey
Vorfall: Mutmaßlicher Überfall auf Mrs. Ranelagh am 24.1.79 um ca. 15 Uhr
Mrs. Ranelagh gibt Folgendes zu Protokoll: Ich war gestern Nachmittag beim Einkaufen, weil ich keine Lebensmittel mehr im Haus und seit drei Tagen nichts gegessen hatte. Ich glaubte, ich hätte nichts zu befürchten, weil es noch hell war. Als ich in die Graham Road einbog, kam von hinten ein Mann und stieß mich in die Gasse hinter den Häusern mit den geraden Nummern. Ich konnte nicht schreien, weil er mir sofort den Mund zuhielt und mir von hinten den Arm so fest um den Körper schlang, dass ich meine Arme nicht mehr bewegen konnte. Dann stieß er mich mit dem Gesicht voraus gegen einen Zaun und drückte mich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Es ging alles sehr schnell, und ich hatte keine Möglichkeit, mich zu befreien. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, weil er sich hinter mir befand, aber sein Atem roch nach Alkohol und seine Kleidung nach altem Schweiß. Ich hatte eine lange Hose an und spürte, wie mir etwas zwischen die Oberschenkel gestoßen wurde. Ich glaubte, es wäre der Penis des Mannes. Er hielt sein Gesicht seitlich an meinen Kopf gedrückt und flüsterte mir Schimpfwörter ins Ohr, »Schlampe«, »Fotze« und Ähnliches. Er sagte, er würde es mir »richtig geben«, wenn ich nicht mein »dreckiges Maul« hielte und mit meinem »niggerfreundlichen Gequatsche« aufhörte. Er war sehr kräftig, und ich hatte Angst, weil ich glaubte,
Weitere Kostenlose Bücher