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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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in Tesco Dienst hatten, nahmen die Nachricht mit Gelassenheit auf. Zum Mittagessen sei nicht mit ihnen zu rechnen, erklärten sie unerschüttert, aber sie würden sich auf jeden Fall bemühen, zum Abendessen wieder da zu sein, wenn wir uns damit ein wenig Zeit ließen. Sam hingegen sank in sich zusammen, als hätte er einen Schlag über den Schädel erhalten.
    »Es steht seit Ewigkeiten im Kalender«, sagte ich ganz ohne Mitgefühl und reichte ihm eine Tasse Kaffee, als er sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Mir kannst du weiß Gott keinen Vorwurf machen, wenn du nie einen Blick reinwirfst.«
    »Mir geht's gar nicht gut.«
    Die Jungen tänzelten sofort besorgt um ihn herum, voll Furcht, das Unwohlsein hätte womöglich mit einem neuerlichen Infarkt zu tun und nicht nur mit übermäßigem Alkoholgenuss am vergangenen Abend. Ängstlich starrten sie ihm ins Gesicht und klopften ihm ermunternd auf die Schulter, als könnte das einen weiteren Herzanfall verhindern. Sam warf mir plötzlich einen verschmitzten Blick zu, ganz so, als hätte er eine Idee, wie man einem grässlichen Wochenende entgehen könnte.
    »Ich will gar nichts davon hören«, sagte ich mit strengem Blick. »Du kennst meine Mutter. Die lässt sich von nichts abhalten. Und bilde du dir ja nicht ein, du könntest in deinem Bett verschwinden. Du musst sie bei Laune halten, bis die Jungs wieder da sind.«
    »O Gott!«, stöhnte er theatralisch und schlug beide Hände vor sein Gesicht. »Ich weiß nicht, sie bringt mich um. Ich hab ihr mindestens zweimal versichert, dass wir rein zufällig hier in Dorchester gelandet sind.«
    Luke und Tom musterten ihn neugierig, verwundert über diese heftige Reaktion ihres sonst eher gleichmütigen Vaters.
    »Was ist denn los?«, fragte Luke.
    »Nichts«, antwortete ich. »Dad sieht Gespenster.«
    »Wir könnten uns krankmelden«, schlug Tom hilfsbereit vor. »Ich mag Großmutter.«
    »Weil du sie nie erlebt hast, wenn sie Feuer speit«, knurrte Sam. »Sie ist noch beängstigender als eure Mutter, wenn sie wütend ist«– wieder ein verschmitzter Blick in meine Richtung –»wahrscheinlich weil sie mehr Volumen hat.«
    Ich drückte Tom einen schwarzen Müllsack in die Hand. »Fang schon mal an«, sagte ich. »Dein Vater ist albern. Großmutter betet ihn an. Er braucht nur freundlich zu lächeln, und sie ist Wachs in seinen Händen.«

    Aber es kam natürlich ganz anders. Mein Vater hatte sich seinen eigenen Rat bezüglich des kleineren Übels zu Herzen genommen und einen Zeitschriftenartikel über Mord aus Rassismus in seine Reisetasche gestopft, den meine Mutter entdeckte und las, als sie eigenmächtig beschloss, alle ihre und Vaters Sachen in einen gemeinsamen Koffer zu packen. Mein Vater schwor, es sei ein Versehen gewesen, aber ich glaubte ihm das so wenig wie ich geglaubt hätte, dass Sam meine Unterlagen »versehentlich« gelesen hatte. Ich sagte später zu ihm, es sei ein Riesenglück, dass ich seinen Warnbrief nicht einfach ignoriert hatte, da uns sonst ein Schwiegermutter-Schwiegersohn-Bündnis geblüht hätte wie vor zwanzig Jahren, aber mein Vater lachte nur und meinte, Sam sei nicht der Mensch, der zweimal denselben Fehler mache.
    Der Artikel war im Nachgang zu der amtlichen Untersuchung geschrieben, die sich mit der Ermittlungsarbeit der Polizei im Fall des Stephen Lawrence befasste, eines jungen Schwarzen aus der Mittelschicht, der 1933 in London ermordet worden war. Bei dieser Untersuchung – die erst 1999 stattfand – war die Polizei des »institutionalisierten Rassismus« für schuldig befunden worden, nachdem nachgewiesen worden war, dass sie die Ermittlungen mit beispielloser Schlamperei und Gleichgültigkeit geführt hatte. Lawrence war von einer Bande Weißer ermordet worden, die zu den Verfechtern der These von der Überlegenheit der weißen Rasse gehörten. Sämtliche Täter waren der Polizei bekannt gewesen, aber sie waren dank der Nachlässigkeit, die sich bei Polizei und Gerichten in Bezug auf Verbrechen gegen Schwarze eingebürgert hatte, straflos davongekommen.
    Meine Mutter hätte die Geschichte vielleicht nicht weiter beachtet, wenn mein Vater nicht eine Passage des Artikels angestrichen und mir folgende Notiz an den Rand gekritzelt hätte: »M. Enthält einiges Interessantes. Nimm doch mal mit dem Journalisten Kontakt auf bezüglich besagten Polizeiverhaltens. N. B. ‘River of Blood’-Rede, 1968 – Annie Butts' Ermordung, 1978.’«
    Die Passage lautete: »Wird ein Verhalten als

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