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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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klang vernünftig. Ob es richtig war, stand auf einem anderen Blatt. Ich dachte mir, sie wolle mir wahrscheinlich eins auswischen, weil sie pummelig war und ich dünn, aber ich ließ mich ausnahmsweise nicht aus der Reserve locken.
    »Es würde mich interessieren, ob es wirklich hilft«, sagte ich beiläufig. »Meine Schreie sind immer lautlos. Sie umkreisen tagelang meinen Kopf, bis sie matter und matter werden und eines natürlichen Todes sterben.«
    »Herumschreien ist nichts als affektiertes Getue. Du solltest lernen, dich im stillen Kämmerlein mit deinen Problemen auseinander zu setzen, anstatt ein Riesentamtam um sie zu machen.«
    Genau das habe ich doch getan, dachte ich und seufzte resigniert, worauf sie mir einen argwöhnischen Blick zuwarf. »Ach, darum hast du mich wohl hierher geschleppt? Damit du mich anschreien kannst?«
    »Ich will niemanden anschreien. Ich will einfach in den Wind schreien.«
    »Na wunderbar«, sagte sie. »Und überhaupt nicht peinlich, wenn genau in dem Moment jemand den Weg heraufkommt.«
    »Vielleicht ist das der Witz an der Sache«, meinte ich nachdenklich.« Ein doppelter Adrenalinstoß. Körperlich und geistig.« Ich sah zu, wie ein Boot mit Tauchern in Gummianzügen aus der Bucht hinaustuckerte und Kurs nach Südwesten nahm. »Wäre es
dir
denn peinlich?«
    »Nicht im Geringsten.« Sie hockte sich auf einer Felskante nieder. »Ich hab mich vor zwanzig Jahren nicht davon in Verlegenheit bringen lassen, dass du dich wie eine Geistesgestörte benommen hast, und ich tu's heute erst recht nicht.«
    Ich setzte mich vor ihr auf den Boden. Sie hatte ein kurzes Gedächtnis. Ihre Verlegenheit damals war kolossal gewesen.
    Ich starrte auf ein Büschel rosaroter Grasnelken, das sich in einer Felsspalte verwurzelt hatte. »Ich war nicht geistesgestört, Mama, ich war völlig erschöpft. Wir haben keine Nacht geschlafen, weil unaufhörlich das Telefon läutete, und selbst nachdem wir die Nummer geändert hatten, ging das so weiter. Wenn wir das verdammte Ding ausgehängt haben, haben sie uns Dreck an die Fenster geschmissen oder wie die Wilden an die Haustür getrommelt. Wir waren
beide
total fertig, Mama, wir waren
beide
nur noch Zombies, aber für dich war aus irgendeinem Grund alles, was Sam sagte, wahr, während alles, was von mir kam, gelogen war.«
    Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, zum Horizont, wo das Blau des Meeres mit dem Blau des Himmels zusammentraf, und ich erinnerte mich, dass sie mir einmal erklärt hatte, der Unterschied zwischen einer Frau und einer Dame zeige sich darin, dass die Frau ohne Überlegung spreche, während die Dame stets ihre Worte vorher abwäge.
    »Du hast wie eine Verrückte herumgeschrien, in eurer unteren Toilette wären Ratten«, sagte sie schließlich. »Oder willst du behaupten, dass das nicht stimmt? Du hast literweise Bleichmittel ins Klo geschüttet, um sie zu töten, und hast dann völlig hysterisch behauptet, sie hätten sich im Wohnzimmer eingenistet.«
    »Ich bestreite ja gar nicht, dass ich allerhand sonderbare Dinge gesagt habe, aber es waren keine Lügen. Ich habe immer wieder dieses Scharren gehört, und das Einzige, was mir dazu einfiel, waren Ratten.«
    »Sam hat nichts gehört.«
    »Aber ja, natürlich hat er es gehört«, widersprach ich ihr. »Wenn er zu dir etwas anderes gesagt hat, hat er gelogen.«
    »Und warum sollte er das tun?«
    Ich dachte zurück. »Aus vielen sehr komplexen Gründen – vor allem, denke ich, weil er mich damals nicht besonders mochte und der Meinung war, ich sei an allem schuld. Er warf mir vor, ich selbst machte die Geräusche, um Aufmerksamkeit zu erhalten, und sagte, es fiele ihm nicht ein, meinem kindischen Verhalten auch noch Vorschub zu leisten.«
    Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass er sagte, er hätte einen Mann von der Rattenbekämpfung kommen lassen, der dir klar machen sollte, dass du dir das alles nur einbildest.«
    Ich schüttelte den Kopf. »
Ich
habe den Mann kommen lassen, und aus genau dem entgegengesetzten Grund. Ich wollte den Beweis, dass tatsächlich Ratten da waren.«
    »Und? Waren welche da?«
    »Nein. Der Mann sagte, es gebe keinerlei Anzeichen für eine Rattenplage, keine Nester, keine Exkremente, nichts. Und er sagte, wenn wir wirklich Ratten hätten, dann würden auch unsere Nachbarn darüber klagen.« Ich strich mit einem Finger sachte über die Grasnelken, und die rosaroten Blüten zitterten leicht. »Am nächsten Tag hat Sam dich angerufen, um dir mitzuteilen, ich

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