Schlangenlinien
Cheshire Cheadle Hulme, Cheshire, GB
Mrs. M. Ranelagh
‘Jacaranda’
Hightor Road
Kapstadt
Südafrika
3. Dezember 1998
Sehr geehrte Mrs. Ranelagh,
bezugnehmend auf Ihre Bitte um detaillierte Auskünfte über die Misshandlung von Katzen in Großbritannien lege ich eine Broschüre bei, die wir letztes Jahr herausgebracht haben, um die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen und neue Spender zu werben. Die Lektüre ist bedrückend, wie Sie sehen werden, aber an den Tatsachen ist nicht zu rütteln. Die Arbeit, die wir leisten, kostet viel Geld und viel Zeit; sie wäre völlig überflüssig, wenn nicht immer wieder wehrlose Tiere von Menschen grausam gequält werden würden.
Es fällt mir überhaupt nicht schwer zu glauben, dass jemand es fertig bringt, einer Katze Sekundenkleber ins Maul zu spritzen und ihr die Schnauze mit Klebeband oder Pflaster zu verschließen, um sie am Fressen oder Schreien zu hindern. Wir haben in der Vergangenheit die schlimmsten Dinge gesehen: Katzen, deren Pfoten man in schnell trocknenden Zement getaucht hatte, um sie gehunfähig zu machen; Katzen, denen man das Rückgrat gebrochen hatte, um sie zu lähmen; Katzen, denen man Krallen und Zähne mit Zangen gezogen hatte; die man mit glühenden Schürhaken geblendet hatte; denen man Gummiband so fest um die Schnauze gewickelt hatte, dass das Fleisch ihrer Mäuler sich über dem Band geschlossen hatte. Dies alles offenkundig mit demselben Ziel: sie daran zu hindern, Vögel und Mäuse zu fangen.
Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass ein Mensch, der mit solchem Hass gegen Katzen zu Felde zieht, leicht zu erkennen ist, aber das ist leider nicht der Fall. Es gibt – großenteils dank verhaltenswissenschaftlicher Studien in den USA und Großbritannien – deutliche Hinweise darauf, dass kindliche Grausamkeit gegen Tiere zu soziopathischem Verhalten im Erwachsenenalter führt. Doch Tierquälerei kommt bei Erwachsenen weit häufiger vor als bei Kindern, und solch grausames Verhalten ist im Allgemeinen Ausdruck eines krankhaften Hasses gegen bestimmte Tierarten oder einer unbeherrschbaren Wut – häufig durch Alkoholgenuss ausgelöst –, in der der Mensch auf alles, was ihn reizt, mit Gewalt reagiert.
Leider kann man nicht grundsätzlich ausschließen, dass Miss Butts, so liebevoll sie mit ihren eigenen Katzen umging, Streunern gegenüber ein anderes Verhalten an den Tag legte. Ich kann hier nur die Parallele zu den Menschen ziehen, unter denen es bekanntlich mehr als genug gibt, die nicht bereit sind, Fremden mit der Nächstenliebe entgegenzukommen, die sie ihrer Familie und ihren Freunden zeigen.
Mit freundlichen Grüßen
Betty Hepinstall
10
Am nächsten Tag fuhr ich mit meiner Mutter zur Kimmeridge Bucht auf der Insel Purbeck. Es war ein herrlicher Sommertag. Weiße Wolkenhaufen trieben über den blauen Himmel, als wir den Felsweg zum Clay Tower auf dem Ostufer der Bucht hinaufstiegen. In der Luft über uns sangen die Lerchen, und hin und wieder begegneten wir einem Wanderer, der uns grüßend zunickte oder stehen blieb, um das bizarre Bauwerk zu betrachten, das irgendein längst Verstorbener hier zur ständigen Überwachung des der Bucht vorgelagerten Meeresgebiets errichtet hatte. Meine Mutter und ich sprachen mit den Fremden, aber nicht miteinander, und in den Gesprächspausen blickten wir unverwandt zum Wasser hinaus – aus Furcht, mit einem Wort einen neuen Streit auszulösen, jede der anderen ungewiss.
Schließlich erzählte ich von einer Bekannten, einer Pfarrersfrau, die auf die Klippen hinauszufahren pflegte, wenn der Druck des täglichen Lebens allzu beengend wurde, und sich dort lauthals ihren Ärger von der Seele schrie. Ich schlug meiner Mutter vor, das doch auch einmal zu versuchen. Sie lehnte ab. So etwas liege ihr nicht, erklärte sie. Und ihr war auch unverständlich, wie die Frau eines Pfarrers sich so gehen lassen konnte. Das sei doch gewöhnlich! Was das denn für eine Person sei?
»Exzentrisch«, sagte ich, während ich die Möwen beobachtete, die mühelos über dem Meer segelten, leicht wie Fetzen seidenen Papiers. »Sehr groß und hager... findet es grässlich, mit einem Pfarrer verheiratet zu sein... trinkt gern mal einen... wär gern Bauchtänzerin geworden... hat Ähnlichkeit mit einem Geier.«
»Na also«, sagte meine Mutter.
»Was soll das heißen?«
»Drum schreit sie. Dünne Menschen sind immer exaltierter als dicke.«
Das klang vernünftig. Aber vieles, was meine Mutter sagte,
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