Schlangenlinien
keinerlei Erinnerungen an seine frühe Kindheit zu haben – vielleicht weil sie zu schmerzhaft waren und er sie darum verdrängt hatte, genauso wie ich das mit einigen meiner eigenen Erinnerungen getan hatte. Mir kam seine Ahnungslosigkeit sehr zupass. Sie erlaubte mir, mein Vorhaben ohne allzu schlechtes Gewissen in Angriff zu nehmen.
»Das wundert mich nicht«, antwortete ich. »Jeden Tag sterben Menschen, und sie bleiben im Allgemeinen nur ihren nächsten Angehörigen in Erinnerung.«
Er schaute zur Bar hinüber, wo Drury stand. »Und wieso sind Sie wegen dieser Frau mit ihm aneinander geraten?«
Es war eine gute Frage. »Das weiß ich auch nicht«, bekannte ich. »Und ich habe es auch nie verstanden. Aber eines Tages werde ich eine Erklärung dafür bekommen – vorausgesetzt, es gibt eine.«
»Sind wir deshalb hergekommen?«, fragte er, ähnlich wie drei Tage zuvor meine Mutter. Schmeichelhaft. Sie nahmen beide an, ich wüsste, was ich tat.
* * *
Briefe aus dem Jahr 1999 von Michael Percy, früher in der Graham Road 28 wohnhaft, derzeit wegen bewaffneten Raubüberfalls Insasse des Gefängnisses The Verne, Portland
Bitte adressieren Sie Ihre Antwort wie folgt:
Häftlingsnummer: V50934
Name: Michael Percy
Trakt: B 2
TRAKT B 2
STRAFANSTALT THE VERNE
PORTLAND
DORSET
DT5 1EQ
1. Februar 1999
An:
Mrs. M. Ranelagh
»Jacaranda«
Hightor Road
Kapstadt
Südafrika
Liebe Mrs. Ranelagh,
bitte bemühen Sie Ihren Vater nicht wegen der Briefmarken. Er braucht mir keine zu schicken. Wir haben hier einen Haufen Ausländer – Drogenschmuggler und solche Leute, die bei der Ankunft im Flughafen festgenommen werden –, und mit denen tauschen wir Inlandsbriefmarken gegen Luftpostbriefe. Und Briefmarken habe ich genug, da ich außer Bridget niemanden habe, an den ich schreiben könnte.
Sie können sich sicher vorstellen, dass das Leben hier ziemlich hart ist, aber ich hab's ja nur mir selbst zuzuschreiben, dass ich hier gelandet bin. Jeder Häftling ist in gewissem Sinne ein Freiwilliger, nicht wahr? Sie schreiben, dass Sie von mir in der Zeitung gelesen haben und Ihr Vater mich mit der Hilfe eines Freundes, der im Strafvollzug tätig ist, ausfindig gemacht hat. Das freut mich wirklich. Sie waren immer meine Lieblingslehrerin. Aber Sie werden mir vielleicht nicht wieder schreiben wollen, wenn ich Ihnen sage, dass alles, was in der Zeitung über mich geschrieben steht, stimmt. Ich schäme mich jetzt dafür, aber hinterher zu sagen, es tut mir Leid, ist leicht, finden Sie nicht auch? Der Richter sagte, ich sei gefährlich, weil ich kein Gewissen hätte, aber ich denke, mein Problem ist fehlende Voraussicht. Ich konnte noch nie im Vorhinein erkennen, was mir später mal Leid tun würde – so einfach ist das.
Sie möchten wissen, ob ich mich an die Schwarze erinnere, die in der Graham Road neben uns gewohnt hat. Sehr gut sogar. Sie hat meine Mutter zur Weißglut gebracht mit den Beschimpfungen, die sie dauernd durch die Wand geschrien hat, Hure und Schlampe und Gesindel und solches Zeug. Einmal hat meine Mutter vom oberen Stock aus einen Eimer Wasser auf sie runtergekippt, als sie sie dabei erwischt hat, wie sie bei uns über den Zaun geschaut hat. Annie hat geschrien wie am Spieß, weil sie dachte, es wäre Urin. Es ist wahrscheinlich gemein, das zu sagen – ich meine, jetzt, wo sie tot ist –, aber das war damals schon ziemlich komisch.
Für mich wär's einfacher, wenn Sie mir über das, was Sie wissen wollen, gezielte Fragen stellen. Gemocht hab ich die »verrückte Annie« nie besonders, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Sie hat Alan Slater einmal fast die Hand abgehackt, als sie ihn in ihrem Haus erwischt hat – sie ist mit einem Hackmesser auf ihn losgegangen und hat ihn nur haarscharf verfehlt. Er hat hinterher noch tagelang gezittert vor Angst. Natürlich hätte er sie nicht beklauen sollen, aber dass sie gleich mit dem Hackbeil kam, wo er doch nur so eine lumpige Holzfigur aus ihrem Wohnzimmer mitgenommen hatte, das war schon ziemlich krass.
Aber, wie ich schon sagte, Sie müssen mir schreiben, was genau Sie wissen wollen. Die Frau hat ja nicht nur meine und Alans Mutter die Wände hochgetrieben. Sie hat fast die ganze Straße gegen sich aufgebracht. Ich erinnere mich noch an diese Frau, der sie jedes Mal bis nach Hause nachgelaufen ist, wenn die vom Einkaufen kam. »Flittchen« hat sie ihr immer nachgeschrien, und die war jedes Mal stocksauer. Einmal hab ich gesehen, wie sie mit ihrer Einkaufstasche
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