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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Erinnerung derart entstellt und vergiftet hatte. Aber vielleicht lag es gar nicht an meinem Gedächtnis? Vielleicht hatte Annies Tod tatsächlich etwas bewirkt?
    Als ich an Nummer 5 vorüberkam, warf ich einen kurzen Blick auf das Anwesen und fühlte mich beinahe beschämt bei dem gefälligen Anblick. Die Liebe und Pflege, die wir dem Haus niemals gegönnt hatten, bekam es offensichtlich von seinen jetzigen Bewohnern. Kästen voll farbenfroher Blumen vor den Fenstern, eine neue Haustür aus gebeiztem Holz statt der alten dunkelblauen, die wir gehabt hatten, und der winzige Vorgarten, kaum einen Meter groß, mit einem adretten Backsteinmäuerchen, Töpfen mit knallroten Petunien und einem Halbrund sauber gemähten Rasens neben dem Weg, der zur Haustür führte. Und dies war nicht das einzige Haus, das so herausgeputzt war. Hier und dort sprachen zwar ungepflegte Vorgärten und blätternder Lack von Bewohnern, die nicht bereit oder fähig waren, sich anzupassen, aber ganz allgemein hatte die Straße sich eindeutig gemausert und ließ Jocks Behauptung, dass die Grundstückspreise sprunghaft in die Höhe geschossen seien, durchaus plausibel erscheinen.
    Ich vermutete, dass dies zum Teil dem Verkauf der gemeindeeigenen Häuser zuzuschreiben war, die vor zwanzig Jahren mit ihren einheitlichen gelben Türen jedermann sofort ins Auge gesprungen waren. Jetzt waren sie von den Häusern, die immer schon Privateigentum gewesen waren, nicht mehr zu unterscheiden, und ich fragte mich, wie viele von ihnen noch von den alten Mietern bewohnt wurden, die sie zu Schleuderpreisen gekauft hatten. Wenn man Wendy Stanhope glauben konnte, hatten die meisten dieser Leute innerhalb eines Jahres verkauft, um einen hundertprozentigen Gewinn einzustreichen; die Klügeren jedoch hatten ausgeharrt und zugesehen, wie das investierte Kapital wuchs.
    Ich überquerte die Straße und blieb vor der Pforte zu Sharon Percys Haus stehen. Es war beinahe so schmuck wie das unsere, mit Sonnenjalousien in den Fenstern und einem Büschel Pampasgras im Garten. Ich konnte mir vorstellen, dass sie verkauft hatte, sobald sie einen Reibach gewittert hatte. Dass sie das Haus erworben hatte, wusste ich von Libby, die sich in ihren Briefen monatelang darüber aufgeregt hatte, dass Jock mit seinen dreißig Pfund die Woche Sharons Schlafzimmer finanziert hätte, aber es fiel mir schwer, die neue zurückhaltende Gediegenheit von Nummer 28 mit der affektierten Wasserstoffperoxidblondine auf Wendys Fotografie in Einklang zu bringen.
    Ich spähte – mehr neugierig als in Erwartung, sie zu sehen – durch das Erdgeschossfenster und fuhr zurück, als hinter der Scheibe flüchtig ihr mehlweißes Gesicht mit dem roten Mund, der wie ein blutiger Schlitz wirkte, und den stark geschminkten Augen sichtbar wurde. Ich musste an Libbys Spitznamen für sie denken –»Der platinblonde Vampir«– aber an diesem Morgen wirkte sie eher mitleiderregend als räuberisch. Eine alternde Frau, die meinte, die Verheerungen der Jahre mit Farbe zukleistern zu können. Lebte Geoffrey Spalding noch mit ihr zusammen? Oder war seine Leidenschaft mit ihrem Sex-Appeal gestorben? Schon wollte ich, einem absurden Impuls folgend, grüßend die Hand heben, als mir einfiel, dass ich nie mit der Frau gesprochen hatte und dass diese mich, selbst wenn sie mich vor zwanzig Jahren gekannt hätte, heute bestimmt nicht wiedererkennen würde.
    Annies Haus gönnte ich kaum einen Blick, als ich zu Nummer 32 weiterging. Selbst wenn ich in den Monaten nach ihrem Tod vor dem brettervernagelten Haus gestanden hatte, war nie ihr Geist erschienen, mich zu quälen, und ich erwartete ganz gewiss nicht, jetzt von ihm gequält zu werden.
    Die einzigen Geister, die hier ihr Unwesen trieben, waren einsame Mütter...

    Maureen Slater öffnete mir, noch bevor ich dazu kam zu klopfen, und zog mich mit ihrer kleinen Hand ins Haus. »Ich möchte nicht, dass die Leute Sie sehen«, sagte sie.
    »Die wissen doch gar nicht, wer ich bin.«
    »Das sagen Sie so. Die quatschen alle.«
    Ich verstand nicht, wieso das eine Rolle spielte, da doch niemand mehr hier lebte, der sich an Annie erinnerte; mit »alle«, dachte ich, meinte sie wahrscheinlich Sharon Percy. Ich hielt es für klüger, ihr nicht zu sagen, dass ich bereits gesichtet worden war, und folgte ihr an den offenen Türen der beiden unteren Räume vorbei durch den Korridor in die Küche.
    Das Wohnzimmer schien kaum benutzt zu werden, aber das ehemalige Esszimmer war sehr gemütlich

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