Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
dabei, ihn zu öffnen.“ Und die hinteren machen ein entnervtes Gesicht: „Das hast du mir doch vor fünf Minuten schon erzählt.“ – „Ja, und du hast mich vor fünf Minuten schon dasselbe gefragt.“
Dass Erik in der vordersten Reihe steht, hat er nur seiner Flinkheit zu verdanken. Eine Menge Kinder haben versucht, sich vorzudrängen, und haben sich dabei von Erwachsenen erwischen lassen. Erik ist einfach schneller gewesen, denn von Anfang an hat er gewusst, dass man sich nicht mehr trauen wird, ihn zu vertrimmen, sobald er erst einmal in der vordersten Reihe steht. Aus Scham vor dem fremden Besucher verzichtet man darauf, dem kleinen Bengel eine Abreibung zu verpassen. Der Dorfälteste, der Bürgerrat, der Polizeihauptmeister, alle stehen hinter dem Jungen.
Die Wahrheit ist, sie fühlen sich in der zweiten Reihe nicht unwohl.
Die Gerüchte haben Unrecht, denn der Tisch steht nicht ganz in der Mitte des Zimmers, als der Fremde damit fertig ist, ist aber weit genug von jeder Wand entfernt, dass er und jeder Dorfbewohner ihn umkreisen könnte – mit Ausnahme vielleicht von der dicken Frau des Dorfältesten. Sie wird sich nicht beschweren, denn sie steckt irgendwo hoffnungslos im Gedränge fest.
Sie haben ihrem Gast das Zimmer gegeben, das der alte Winfried vor seinem Ableben bewohnt hat. Es liegt im Erdgeschoss eines ehemaligen Gasthofs, ist geräumig, hat ein Fenster nach Süden und eines nach Westen, und es beinhaltet vor allem genau die Einrichtungsgegenstände, die der Fremde sich gewünscht hat. Das Bett sieht etwas durchgelegen aus, der Stuhl verfügt über keine Lehnen, und der Tisch hat ein kurzes Bein, wie Paul, aber das ist etwas ganz anderes, wenn man vier Beine hat und wenn darüber hinaus nicht von einem erwartet wird, dass man sich fortbewegt und auf dem Feld arbeitet.
Die Wände sind von derselben braunen, fleckigen Färbung wie die Decke und der Fußboden. Der Tisch ist beige, mit einigen großen dunklen Gebrauchsspuren darauf, die mit viel Phantasie beinahe wie Schriftzeichen aussehen.
„Willst du meinen Koffer öffnen, Erik?“, fragt der Gast, nachdem er das leichte Gepäckstück auf dem Tisch abgelegt und sich selbst auf das knarrende Bett gesetzt hat. Er ist ein großer Mann, nicht so groß wie Gerold und bei weitem nicht so breit, aber imposant, selbst dann noch, wenn er zum Teil in der tiefen Mulde des alten Bettes verschwindet. Seine grüne Kutte faltet sich so merkwürdig an den Stellen, wo sie gegen das Bett stößt, dass man nicht lange hinsehen möchte.
Der Junge ist nicht halb so nervös, wie es jeder der Erwachsenen an seiner Stelle wäre. Erwachsene haben lange genug gelebt, um viele Leute viele Fehler machen zu sehen, und wenn sie selbst etwas tun sollen, fallen ihnen alle diese Erfahrungen wieder ein. Sie behaupten, dass man aus Fehlern lernt, und das stimmt natürlich – man lernt vor allem, wie man auch ausgefallene Fehler macht, auf die man alleine gar nicht gekommen wäre. Kinder haben es da ein wenig leichter, aber das soll nicht heißen, dass nicht auch Erik ein wenig zittert, als er seine kurzen Finger über das schwarze Holz gleiten lässt. Er entdeckt zwei winzige, einfache Verschlüsse, beinahe wie krummgeschlagene Nägel, und kaum hat er sie berührt, geben sie schon nach. Das heißt, einer fällt aus dem Holz heraus, der andere lässt sich drehen.
Erik klappt den Deckel auf. Er tut es so laut, wie es nur ein Junge tun kann, der keine Ahnung von ehrfurchtsvollen (lies: furchtsamen) Bewegungen hat, und die Hälfte der Erwachsenen zuckt bei dem Knall zusammen, den der Deckel auf dem Tisch verursacht.
„Was ist es?“, ruft jemand von ganz hinten. „Ist es eine Waffe?“
„Nun“, sagt der Fremde leise und lächelnd und beobachtend von seinem Bett aus. „Ist es eine Waffe, Erik?“
„Es ist ein Schachbrett.“ Der Junge sieht so etwas nicht zum ersten Mal. Ein flaches, quadratisches Stück Holz, weiße und schwarze Felder, acht auf acht, mit einem Steg dazwischen, den man beim Spielen wohl ignorieren muss, denn er rührt nur daher, dass man dieses Brett zusammenklappen kann – anders als alle, die Erik bisher gesehen hat. Sein Vater hat ihm vor zwei, drei Jahren einmal die Regeln beigebracht, und er kann sich noch an jede einzelne erinnern, auch an die Sache, die man Rochade nennt und von der es eine große und eine kleine gibt – und das, obwohl er bisher gewiss weniger als zehn Spiele gemacht und noch keines gewonnen hat.
Er weiß, dass man zu
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