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Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Titel: Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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kann man nicht mehr weiter reduzieren.
    Zeit vergeht, doch sie kann nicht mehr gemessen werden. Es steht keine Sonne mehr am Himmel, es gibt keinen Wechsel von Tag und Nacht. Irgendwann erreicht Erik das Ende der Ebene.
    Es ist eine Kante, ein Abgrund, nicht mehr und nicht weniger. Die Fläche endet hier, jenseits davon ist das Nichts. Der Junge steht eine Weile nachdenklich dort, blickt nach unten, nach vorn, nach oben – nirgendwo ist etwas zu sehen. Er überlegt, ob er den Abstieg wagen kann, aber der Abgrund hat keine Vorsprünge, an denen man sich festhalten kann. Es gibt kein Seil, und er weiß ohnehin nicht, wie tief es nach unten geht.
    Seine Welt ist hier zu Ende.
    Wenn er sich umwendet, glaubt er schwere schwarze Gewitterwolken in der Richtung zu erkennen, in der sich einmal das Dorf befunden hat. Es sieht aus, als greife die Faust eines Riesen vom Himmel herab nach den Häusern und zerquetsche sie.
    Er wendet sich ab, lässt sich auf den glatten Boden nieder und betrachtet den schwarzen König in seiner Hand.
    Allmählich glaubt er, den Fremden ein wenig verstehen zu können. Falls er die Begrenztheit dieser Welt gekannt hat, ist es beinahe verständlich, dass er sich auf ein aussichtslos wirkendes Schachproblem konzentrierte und seinen Verstand aufs Äußerste anspannte, um darin eine Lösung, einen Ausweg aus dieser engen Welt zu finden.
    Ja, Erik versteht: Gesetzt den Fall, er würde hier umkehren und den Weg zurück ins Dorf einschlagen, gesetzt den Fall, das Dorf wäre wieder intakt, wie er es gekannt hat, dann würde er, Erik, vermutlich nichts anderes tun als sich in einem Zimmer einzuschließen und Tag und Nacht auf den schwarzen König zu starren, um in ihm eine Lösung für das zu finden, was er erlebt hat.
    Mit anderen Worten, er würde sich annähernd so verhalten, wie der Fremde sich verhalten hat.
    In Wirklichkeit hat der Fremde also in dem Problem des schachmatt gesetzten schwarzen Königs einen Weg aus dieser Welt gesucht. Die ganze Zeit über ist es nicht um Schach gegangen, sondern um die Welt, in der sie alle sich befinden.
    Jetzt, wo der Fremde nicht mehr existiert, vermutlich zu einem Stück Holz geworden ist, hat Erik seine Stelle eingenommen. Darin erkennt er eine eigenartige Art von Symmetrie. Einen Sinn inmitten der Sinnlosigkeit.
    Der Junge hat keine Zeit mehr, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Die Ebene tut etwas, was sie noch nie getan hat – sie neigt sich, sie kippt. Erik versucht sich festzuhalten, um nicht von der Fläche zu rutschen, doch die Oberfläche ist von vollkommener Glätte, und seine Finger finden keinen Halt. Die Schachfigur entgleitet seiner Hand beim letzten erfolglosen Versuch, nach der Kante zu greifen.
    Erik fällt von der Welt herab.
    Während er fällt, glaubt er am Himmel Sternbilder zu erkennen. Buchstaben, verschiedene Varianten des Kreuzzeichens, fünfzackige Sterne …
    Er weiß, was das bedeutet.
    Seine Welt ist größer als das Schachbrett, aber ebenso begrenzt.
    Das Universum ist größer als seine Welt, aber ebenfalls begrenzt.
    Mit dieser langweiligen, nutzlosen Erkenntnis verwandelt er sich in ein Stück Holz ohne Namen, ohne Leben.

8
    In dem Zimmer tobte ein Geschöpf wie ein Wirbelsturm.
    Eine Stimme ertönte aus dem Zentrum des Raumes, begleitet von Poltern und Donnern.
    „Verrrfluchterrr Kerrrkerrr! Lasst mich endlichhhhh herrraussssss!“
    An den Wänden leuchteten magische Symbole und Bannzeichen. Sie waren wie feurige Risse in der Finsternis, Risse, die in eine Welt voller Flammen hinaus führten. Es war unmöglich, den Blick davon abzuwenden, denn sie waren überall, auch in der Decke und im Fußboden.
    Das Wesen, das im Zimmer gefangen war, hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch, der vor ihm stand. Dort hatte es eine kleine Welt aufgebaut, in einfacher, beinahe kindlicher Weise. Zerfetzte Bücher lagen auf dem Boden zerstreut, aus deren Papier der Gefangene Häuser und Möbelstücke gefertigt hatte, krumm und schlicht. Er hatte die Regale und Schubladen ausgeräumt, alles zerschlagen, was er gefunden hatte, und aus den Bruchstücken eine Miniaturlandschaft mit Hügeln und Senken, mit Wäldern und Äckern gebaut.
    Unter seinen Fingernägeln klebte eingetrocknetes, klumpiges Blut, denn mit den Nägeln hatte er Splitter aus dem Holz der Möbel gerissen. Daraus formte er Menschen, kleidete sie in Fetzen des geschmacklosen grünen Vorhangs. Ungeschickt gefaltete Papiergänse wurden über die Landschaft geblasen, wenn er wütend den Atem

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