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Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Titel: Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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des ersten Dan.
    Der Fremde ist in eine lange, dunkelgrüne Kutte gehüllt. Die Dorfbewohner, die ihre Arbeit niederlegen und seine Ankunft beobachten, sind erstaunt darüber, wie geschickt er sich durch den inneren dichten Wall von Disteln bewegt, ohne mit seinem langen Mantel auch nur ein einziges Mal an den stacheligen Gewächsen hängen zu bleiben. Wie ein bengalisches Feuer ist er, ein plumpes grünes Irrlicht, das mit schwerer, träge flackernder Flamme herannaht. Noch viel erstaunter sind die Zuschauer, als sie dieses Gewand aus der Nähe sehen und erkennen müssen, dass es voller Distelsamen ist und an mehreren Stellen zerrissen. Wie ist das möglich, wo er den Pflanzen doch mit solch traumwandlerischer Sicherheit ausgewichen ist?
    Er ist in doppelter Hinsicht ein Fremder. Nicht nur ihrer Erinnerung ist er fremd, auch ihrem Verstand …
    „Gibt es da draußen noch dichtere Distelwälder? Habt ihr Euch dort verheddert? Erzählt mir davon.“ Ein Junge hat sich vor die Erwachsenen gestellt. Während ihre Gesichter Misstrauen und Distanz ausdrücken, springt die Neugier aus seinen Augen den Fremden an wie ein ausgelassener Welpe. Einer der Erwachsenen tastet nach der Kapuze, die dem Jungen auf den Rücken hinabhängt, doch dieser befreit sich mit einer schnellen Bewegung, ehe der Griff zu fest wird, und rennt auf den Kuttenträger zu.
    „Keinen Schritt weiter!“, zischt der größere der beiden Erwachsenen. Es ist ein hünenhafter Kerl mit kleinen, eng zusammenstehenden Augen. Ihm wächst ein roter Bart lang und schmal bis auf die Brust herab, doch von seinen Kopfhaaren ist nur ein kleiner Kranz übriggeblieben. Der Junge, der auf den Namen Erik hört, nein, nein, der Erik heißt , sieht sich unsicher um, weil er nicht weiß, ob der Befehl des langen Gerold ihm oder dem Fremden gegolten hat. Zwischen ihnen ist tatsächlich nicht viel mehr Platz als gerade ein Schritt, und der Junge hat keineswegs die Absicht gehabt, diese Distanz auch noch zu überwinden. Es ist ein sehr guter Abstand, um zu reden. Was hat Gerold nur von ihm gedacht? Dass er sich dem Unbekannten an den Hals werfen wird?
    „Seid Ihr ein Wanderer?“, erkundigt sich Erik. Auf seine erste Frage hat er keine Antwort erhalten, aber das hält ihn nicht ab, weitere zu stellen.
    „Wo kommt Ihr her?“, will nun einer der Erwachsenen wissen. Es ist nicht Gerold, sondern der andere, ein kleiner, drahtiger Kerl, der sich auf einen Stock stützt. Sein Name ist Paul, und es ist nicht das Alter, das ihm die Stütze aufzwingt, sondern ein von Geburt an verkürztes Bein. Gerold stellt nie Fragen, um nicht Gefahr zu laufen, auch nur ein bisschen intelligenter zu werden. Paul dagegen gibt nie Befehle, aus Angst, jemand könne sich ihnen widersetzen und aus Trotz heraus eine Prügelei mit ihm beginnen.
    „Ich bin ein Reisender“, erwidert der Fremde, und Erik macht einen kleinen Satz vor Freude. Es ist offensichtlich, dass der Fremde seine Frage beantwortet hat und nicht die von Paul. Und es geht noch weiter: „Die Disteln stehen sehr locker da draußen.“ Mit einer vagen, schlenkernden Bewegung weist der Mann hinter sich, und es scheint beinahe, als schließe er mit „da draußen“ die ganze Welt ein. Natürlich ist das keine erschöpfende Erklärung für den Zustand seiner Kleidung, eher das Gegenteil einer Erklärung, aber immerhin eine Antwort, und zwar eine auf Eriks Frage. Der Junge ist überglücklich, dass ihm von einem Menschen, den er noch nie gesehen hat, so viel Aufmerksamkeit zuteilwird.
    „Ich kann Euch im Dorf herumführen, wenn Ihr möchtet“, ruft er.
    „Falsch“, knurrt Gerold. „Wenn wir es möchten.“
    „Wie heißt Ihr, Fremder?“, fragt Paul.
    „Es ist nicht besonders groß“, sagt Erik.
    „Sei endlich still!“, grollt Gerold.
    „Kommt Ihr eher zufällig vorbei, oder erfüllt Euer Besuch einen bestimmten Zweck?“, will Paul wissen.
    „Wir glauben nicht an Zufälle“, erklärt Gerold entschieden.
    „Ich kenne geheime Zugänge zu mehreren Gebäuden“, behauptet Erik, nicht ohne Stolz.
    Der Fremde sieht an ihnen vorbei in die Ferne. Er scheint zu warten, bis sie von alleine aufhören zu reden. Die Luft ist warm, wie von den Nüstern eines alten Drachen ausgestoßen, der nicht mehr Feuer speit, nicht mehr raucht, aber noch immer heißen Odem atmet. Der Mann trägt nur ein einziges Gepäckstück bei sich, ein kleines, schwarzes, rechteckiges Köfferchen. Dieses stellt er nach einer Weile in den sandigen Boden und bewegt

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