Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
König stirbt oder am Leben bleibt?“
„Aber er kann keinen Zug mehr machen! Er ist gefesselt, gefangen.“
Jetzt lacht der Mann. „Du bist ein kluges Kerlchen. Ja, du hast recht! Schachmatt, das ist ein König in Ketten. Der schwarze König in meinem Spiel liegt in schweren, schweren Ketten. Sie halten ihn so fest, dass er keines seiner Glieder rühren kann. Er kann kaum atmen in diesen Fesseln. Dazu kommt, dass er alle seine Untertanen verloren hat und keine Befehle mehr zu erteilen vermag. Seine Situation ist … ist …“ Zum ersten Mal scheint der Mann zu zögern, nach einem Wort zu suchen. „… aussichtslos. Ja, aber er ist nicht tot.“
„Verzeiht, aber … er wird es sein, wenn er den nächsten Zug macht.“
„Wahrhaftig! Wenn! Wenn er den Zug macht! Aber dieser Zug existiert nicht in dem Spiel namens Schach. Das Regelwerk lässt den Spieler den Zug nicht ausführen. Man gestattet dem König nicht zu sterben. Dieses Recht nimmt man ihm. Man bricht dieses lächerliche Spiel ab, ohne dass es wirklich entschieden wurde.“
Es ist entschieden, will Erik noch einmal betonen, doch er unterlässt es. Es gibt keine Garantie, dass ein Erwachsener, der beim ersten Widerspruch nicht sofort wütend wird, auch später niemals die Beherrschung verliert.
Die Aufmerksamkeit des Jungen wird ohnehin von etwas anderem beansprucht.
Irgendetwas hinter dem Mann beginnt sich zu verändern, nur für einen winzigen Moment. Es ist, als würde die Wirklichkeit zerbröckeln, als greife eine riesige unsichtbare Hand nach dem Zimmer und zerdrücke es. Gleich darauf kehren die Wände in ihre gewöhnliche Form zurück, und Erik ist beinahe sicher, dass seine Sinne ihm einen Streich gespielt haben. Er hat von Schwächeanfällen gehört, bei denen sich die Welt um einen dreht, und überlegt, ob ihm eben etwas ähnliches passiert sein könnte, obwohl sich nichts gedreht hat, sondern das Zimmer von einer Monsterfaust ein wenig zerknüllt worden ist. Sind Schwächeanfälle nicht sowieso etwas für Mädchen oder ältere Leute?
Irritiert sucht er nach Spuren seiner Wahrnehmung, und nach einiger Zeit glaubt er einige Risse in der Wand gefunden zu haben, die vorhin noch nicht da waren. Natürlich ist das unmöglich. Die seltsame Geschichte des Fremden muss ihm zugesetzt haben.
Erik betrachtet jetzt das Schachproblem. Er redet sich noch immer ein, es wäre ein solches, denn er weigert sich zu akzeptieren, dass es die Grundaufstellung des Spiels „Schachmatt für Schwarz“ sein könnte, wie der Fremde wohl implizieren möchte. Er richtet sein Augenmerk auch deshalb auf das Brett, damit er nicht mehr Gefahr läuft, die Wand hinter dem Mann anzusehen. Ob eine Wand in den letzten Minuten neue Risse bekommen hat, ist für die Leute, die sich in dem Zimmer befinden, viel wichtiger als irgendein Spiel, und doch schaffen es Menschen manchmal, so zu tun, als verhalte es sich genau umgekehrt.
Der Junge geht um den Tisch herum, wie es der Mann zuvor getan hat, wenn auch zögernder und mit weniger rhythmischem Schwung. Er wartet fast ein bisschen darauf, dass sich seine Blicke ebenfalls an den Figuren festsaugen wie die Saugnäpfe eines Kraken, doch sie tun es nicht. Er kann sie jederzeit in alle Richtungen wenden, ohne dass sie an dem Brett einschnappen, festkleben oder auch nur ein bisschen hakeln.
„Konzentration“, bemerkt der Mann. Konzentration, sagt sich Erik, muss der Name des Klebstoffs sein, den der Mann besitzt und er nicht.
Als er den Tisch zur Hälfte umrundet hat und hinter dem schwarzen König angekommen ist, verändert sich das Zimmer noch einmal. Es wird einfacher, ungeschlachter. Grobe Linien markieren die Ecken, an denen die Wände aneinander, an den Fußboden und die Decke stoßen. Die beiden Fenster sind nur ausgefranste Löcher, die jemand ungeschickt in die Wände gerissen hat. Was er sieht, ist ein Entwurf des Zimmers, ein dreidimensionales Provisorium, das Bett ein Kasten, der Stuhl, der Tisch simple Brocken. Dann geht er einen Schritt weiter, und das Zimmer ist wieder jenes, das er kennt. Das Bett ist wieder ein richtiges Bett geworden, obwohl er den rauen Kasten nicht so schnell vergessen kann, der eben an der Stelle des Möbelstücks gestanden hat.
Erik hat das Gefühl, dass es vielleicht nicht gut ist, viel länger hier zu bleiben. Seine Eltern haben ihm verboten, länger als eine Stunde bei dem Fremden zu verbringen. Möglicherweise kommt sein Vater ihn holen, wenn die Zeit abgelaufen ist. Davor hat er keine
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