Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
ausstieß. Seine Hände zerquetschten die Häuser und Bäume. Er zerrieb sie zwischen den Handflächen, zerdrückte sie zwischen den Fingern und zermalmte sie unter seinen Fäusten.
„Lasst mich heraus!“, brüllte er. „Ich verliere den Verstand!“
Er versuchte, seinen Blick von dem Tisch zu nehmen, doch es hatte keinen Sinn. Die Symbole, die seine Welt begrenzten, brannten unerträglich in seinen Augen, so dass sein Blick immer wieder von allein zu der Tischplatte zurückkehrte. Die Welt, die er unter dem Sternenhimmel der Bannzeichen geschaffen, mit der er gespielt hatte, war jetzt vollständig zerstört. Nur am Rande des Tisches kauerte noch eine kleine Gestalt. Sie hielt etwas Schwarzes in der Hand, kein Holz, kein Papier, sondern ein ein, zwei Zentimeter langes Stück vom Kopfhaar des Gefangenen.
Es hatte nichts genutzt, dass er das Haar wie einen magischen Talisman ins Spiel gebracht hatte. Die Welt hatte ihm nicht geholfen, einen Weg aus seinem Gefängnis zu helfen. All die Charaktere, die er geschaffen hatte, mit deren Hilfe er eine neue Idee, einen Fluchtplan zu erarbeiten gehofft hatte, waren Versager gewesen. Sie wussten nicht mehr, sondern weniger als er. Es war ein törichter Versuch gewesen, aber was konnte man tun, wenn man endlose Jahre Zeit, aber nur ein paar Quadratmeter Raum zur Verfügung hatte! Wenn die ganze Welt ein hermetisch abgeriegeltes Zimmer war, mit brennenden, zuschnappenden Rändern!
Wie gnädig und harmonisch war dagegen die Welt, die er selbst geschaffen hatte. Er hätte jederzeit mit dem Fremden oder mit Erik getauscht. Doch das konnte er nicht. Für die Welt auf dem Tisch war er ein Gott und konnte niemals ein Teil von ihr werden, konnte nur erschaffen und vernichten. Irgendwann hatte er die Konzentration verloren und nur noch die wirkliche Gestalt der Szenerie zu sehen vermocht – die grotesken Gebilde aus Holz, Papier und grünem Stoff.
Mit einem dröhnenden Aufschrei kippte er den Tisch um und sah zu, wie die letzte Figur seines Spiels über den Rand hinab fiel.
Dann warf er sich gegen die Wände wie ein rasendes eingesperrtes Tier. Die leuchtenden Symbole fraßen sich in seine Haut, verbrannten und verätzten sein Fleisch bis zu den Knochen, verbissen sich in ihn wie eine ganze Horde tollwütig gewordener, spitzzähniger Engel. Erst, als er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, zog er sich wimmernd und zitternd ins Zentrum des Raumes zurück.
Er konnte nicht einmal auf dem Fußboden stehen, geschweige denn dort sitzen oder liegen. Die Symbole, die den Boden bedeckten, hätten ihn aufgefressen. Er schwebte im Zentrum des Raumes, in zusammengekauerter Stellung. Ruhe zu finden, war ihm nicht vergönnt.
Der Geist des Lorenz von Adlerbrunn befand sich an einem Ort ewiger Qualen. Er hätte alles darum gegeben, ihn verlassen und Rache üben zu können an jenen, die ihm dies antaten. Er hatte genug von der Flucht nach innen, in Fantasien, Spiele, hypothetische Züge, die niemals ausgeführt wurden, fiktive Regeln, die niemals zur Anwendung kamen. Er hatte genug von Menschen, die er aus dem Holz kratzen und mit seinem Blut zum Leben erwecken musste. Er wollte endlich wieder einen echten Zug machen.
Er war der schwarze König.
Er war schachmatt.
Ja, aber schachmatt zu sein war nicht dasselbe wie tot zu sein.
Er konnte nicht ziehen, aber er war nicht vom Spielbrett verschwunden.
Sie hatten die Macht, ihm Fesseln anzulegen, aber nicht, ihn zu vernichten.
Schachmatt.
Es würde eine Zeit kommen, in der Schachmatt nicht das Ende, sondern den Anfang einer Partie markieren würde. Eine Zeit, da die Regeln neu geschrieben wurden.
Auf diese Zeit wartete er. Es würde eine großartige Partie werden …
ENDE DER EPISODE
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Der nächste Falkengrund-Band enthält die Episoden
Nr. 21: „80 Tage in den Tod“
Nr. 22: „Neun Faden tief“
Nr. 23: „Das Grauen der Mary Celeste“
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