Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)
Sie zuckte die Schultern. »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann.«
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«
Lizzy fuhr weiter und die Frau lud wieder ihren Kofferraum aus. Ein paar Kilometer weiter sah Lizzy die Abzweigung, genau wie die Frau gesagt hatte. Sie nahm ihr Handy und beschloss, die eingebaute Taschenlampe zu benutzen, damit sie sah, wo sie hinging. Dann stieg sie aus. Hier oben war es deutlich kühler als in Sacramento, wo es auch nachts, anders als im Bergland von Nevada, heiß und schwül blieb.
Sierra Nevada, zweiundsiebzigster Tag
Vivian saß auf dem Bett, den angeketteten Fuß auf ein Kissen gestützt. Das Messer, das sie umklammert hielt, lag schwer in ihrer Hand und hatte eine äußerst scharfe Klinge. Sie betrachtete ihren Fuß und suchte nach einer Stelle, wo sie am besten durch Haut und Knochen schneiden konnte.
Sie hatte bereits ein Leintuch in Streifen geschnitten. Einige davon würde sie als Druckverband verwenden. Leider gab es in der Hütte keinen Alkohol. Den könnte sie jetzt gut gebrauchen.
Den Knochen zu durchtrennen, würde sich bestimmt als schwierig erweisen. Im Notfall würde sie ihn mit einem Fleischklopfer brechen, den sie in der Küche gefunden hatte. Sehnen und Muskeln zu durchschneiden, würde furchtbar wehtun, vor allem, wenn sie dabei auf einen Nerv traf. Aber schon andere Menschen vor ihr hatten sich einen Arm oder ein Bein amputiert, um freizukommen, also würde sie es auch schaffen.
Sie hatte sich ihren Plan tagelang durch den Kopf gehen lassen und die notwendigen Werkzeuge zusammengetragen. Es war machbar. Sie redete sich immer wieder ein, dass sie keine andere Wahl hatte.
Diane war tot, soviel stand fest. Die Nachricht, die sie in die Unterseite der Tischplatte geritzt hatte, sprach eine deutliche Sprache.
Diane war hier
. Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen.
Vivian hatte sich anfangs gewundert, dass Melbourne sie so schnell in das Programm aufgenommen hatte, aber jetzt wusste sie, warum. Sie hatte ihn öfters angerufen und zu viele Fragen gestellt. Sie wusste zu viel.
Die letzten Tage hatte sie verstärkt mit ihrem Leben gehadert. Am meisten störte sie, dass sie nichts aus sich gemacht hatte. Schließlich war sie intelligent. Sie hätte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen sollen, um mit ihrem Übergewicht und ihrer Einsamkeit fertigzuwerden.
Andere taten es doch auch.
Nach einer erfolgreichen Therapie hätte sie studieren und etwas aus ihrem Leben machen können. Sie war nicht die Einzige, die unter einer herrschsüchtigen, kontrollierenden Mutter gelitten hatte. Und es gab genug andere Mädchen, die ihren Vater zu einem frühen Zeitpunkt verloren hatten.
Vivian hätte ihrer Mutter Paroli bieten und sich nicht so leicht von ihr beeindrucken lassen sollen. Sie hatte nichts falsch gemacht und war keine Versagerin. Sie war stark und würde es beweisen.
Aber das alles war ihr erst klar geworden, als sie monatelang in einer Hütte mitten in der Wildnis festsaß. Alles brauchte seine Zeit.
Die Hütte war nicht viel größer als ihr Apartment. Daheim setzte sie nur selten einen Fuß vor die Tür, aber sobald Melbourne sie angekettet hatte, sehnte sie nichts so sehr herbei wie ihre Freiheit. Der Typ wusste wahrscheinlich gar nicht, dass seine Methode bei weitaus mehr Problemen als nur Übergewicht half. Man brauchte Menschen nur in die Einsamkeit zu verbannen und schon packte sie der Drang, das Leben voll auszukosten und die Welt zu sehen.
Sie musste darüber lachen – ein bitteres Lachen, aber immerhin.
In ihrem Freiheitsdrang nahm sie das Messer und hielt es mit ruhiger Hand, die Klinge genau über der Stelle, wo ihr Knöchel am dünnsten war. Ich kann es, sagte sie sich immer wieder.
Aber noch bevor sie den ersten Schnitt tun konnte, flog die Tür zur Hütte auf.
Hastig zog sie sich die Decke über das Bein, das Messer und die Verbandsstreifen. Weder Schritte noch das Rasseln eines Schlüsselbundes hatten sie gewarnt, dass sie Besuch bekam.
Es war Jane.
Doch dann erkannte sie, dass es doch nicht Jane war. Vivian kannte dieses Gesicht. Sie hatte mit Diane stets über Skype gechattet. Kein Wunder, dass ihr die Frau bekannt vorgekommen war, als sie Vivian das erste Mal besucht hatte. Sie hatte dieselben blauen Augen und dasselbe Gesicht wie ihre Freundin Diane.
Es war ihre Schwester, Andrea Kramer.
»Was haben Sie mit Diane gemacht? Wo ist sie?«
Andrea stellte ihren Rucksack auf den Boden, seufzte und setzte sich auf die
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