Schlecht aufgelegt (German Edition)
Abend eine Scheibe abzuschneiden versuchte. Das Bild lehnte links neben dem Spiegel. Paul stutzte. Heute nicht. Heute lehnte das Bild auf der rechten Seite! Und das war falsch. Das Bild hatte links zu lehnen, nicht rechts. Er war sich ganz sicher, dass er niemals, auch nicht aus Versehen, das Bild nach rechts gestellt hatte. Paul war Rechtshänder. Und immer wenn er sich die Zähne mit seiner rechten Hand putzte, konnte er links neben dem Spiegel auf das Bild seiner kleinen Tochter schauen. Also stand das Bild falsch. Sonst sah aber alles normal aus. Auf den ersten Blick zumindest. Paul öffnete die obere Schublade seines kleinen Badezimmerschränkchens. Darin lagen drei Deos verschiedener Firmen. Das Deo, das er im Moment gebrauchte, das einzige, in dem überhaupt noch etwas Spray enthalten war, hätte oben auf den beiden anderen liegen müssen. Tat es aber nicht. Es lag ganz unten. Wie konnte das sein? Hatte er in betrunkenem Zustand alles durcheinandergebracht? So betrunken war er doch gar nicht gewesen. Er ging mit der Zahnbürste im Mund ins Wohnzimmer und warf einen Blick in die Runde. Sah erst einmal alles normal aus. Der Stapel mit Richard Schiefelbecks Gedichten war leider auch noch da. Er wollte gerade seinen Computer anschalten und den ordnungsgemäßen Zustand der Festplatte überprüfen, als es an der Tür klingelte. Das Taxi! Er humpelte auf einem Hosenbein zur Gegensprechanlage, warf ein nuscheliges «Komme gleich» durch die Borsten seiner Zahnbürste, beschloss, alle paranoiden und negativen Gedanken auf später zu verschieben, und schaltete mit der freien Hand den Fernseher wieder aus. Erst einmal das Date.
D er alte Mann an der Rezeption hatte Kuli nicht wiedererkannt, zumindest hatte er sich nichts anmerken lassen. Er hatte lediglich etwas blöd gekichert, als Kuli die Zimmernummer 35 verlangte, das gleiche Zimmer eben wie am Abend zuvor. Vielleicht hatte es ihn amüsiert, dass Kuli trotz der lautstarken Lüftung und obwohl es scheißkalt darin war und obwohl es auch sonst keinerlei Vorzüge gab, genau dieses Zimmer noch einmal mit seiner Anwesenheit beglücken wollte. Vielleicht war er auch einfach nur ein bisschen senil. In seinem kleinen Fernseher lief heute eine Gameshow mit Jörg Pilawa, der gerade diesem lustigen und aufgedrehten Fernseharzt, dessen adeligen Namen Kuli vergessen hatte, die Spielregeln erklärte. Das Publikum lachte, Kuli zahlte die achtzig Euro im Voraus und ging die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dass er kein Gepäck dabeihatte, hatte den alten Mann nicht gekümmert, er hatte zumindest keine Fragen gestellt und ihn wahrscheinlich schon wieder vergessen, als Kuli den Schlüssel im Schloss herumdrehte.
Kuli ging hinein, verriegelte die Tür, zog die Jacke aus, warf sie auf den einzigen Stuhl, setzte sich aufs Bett, zog die Schuhe aus, stand wieder auf, schloss die Vorhänge, machte das Licht an, setzte sich wieder aufs Bett, stand erneut auf, machte das Licht aus und öffnete die Vorhänge wieder. Es war am Ende doch besser, er konnte hinaussehen. Das Zimmer ging zur Straße raus, Kuli konnte theoretisch die ganze Nacht hier sitzen und beobachten, ob verdächtige Autos vor dem Hotel hielten oder dick verpackte Muskelmänner sich auffällig unauffällig auf dem Gehweg herumdrückten. Er betrachtete die andere Straßenseite. Linker Hand stand ein länglicher Betonklotz, in dem ein Netto-Supermarkt mit großem Kundenparkplatz untergebracht war. Rechter Hand gab es einen kleinen Park, na ja, eher eine Grünanlage mit ein paar kahlen Bäumen für die Hunde der Nachbarschaft, soweit Kuli das in der Dunkelheit erkennen konnte. Konnte man sich jedenfalls gut darin verstecken. Und direkt gegenüber: ein mehrstöckiges Parkhaus, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Ideal für einen Scharfschützen. Vielleicht sollte er doch lieber vom Fenster ablassen, sich ducken, die Augen zumachen und warten, bis es wieder hell wurde. Ach, das war doch alles ein Blödsinn, war das, er hätte nicht so viel 24 gucken sollen, schalt er sich. Er war doch nicht Jack Bauer. Als wenn hier, mitten in Berlin, irgendwelche Killer in Parkhäusern auf ihn, Ulrich Kulenkampff, lauern würden. Obwohl.
Kuli seufzte. Er gelangte zu keiner Entscheidung. Vielleicht war es doch am besten, sich einfach nur unter die Decke zu legen, dieselbe bis unter die Nase hochzuziehen und die Augen zuzumachen. Einfach mal wieder zu schlafen. Er ließ sich aufs Bett fallen, griff nach der Fernbedienung auf dem dunkelbraunen
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