Schlecht aufgelegt (German Edition)
zurückrufen, vielleicht. Wenn er daran dachte.
«Hallo, mein Junge», erklang eine leicht hysterische, angekratzte Stimme, die Paul zweifelsfrei als die seiner Mutter identifizierte. «Ruf doch bitte endlich mal zurück, ja?», beklagte sie sich. «Das ist jetzt schon Wochen her. Tante Irene hat sich die Hand gebrochen, Sabine hat Zucker, kennst du doch, Sabine aus unserer Kuchenrunde, da wissen wir jetzt auch nicht, wie das weitergehen soll, Frau Rosenkötter zieht um, das musst du dir mal vorstellen, nach all den Jahren. Na ja, hoffentlich bekommen wir gute Nachbarn, wenn sie schon neu sein müssen.» Seine Mutter sagte immer noch ‹wir›, obwohl Pauls Vater schon vor zwanzig Jahren ausgezogen war. Unter anderem aufgrund solcher Tiraden wie der auf seinem Anrufbeantworter. Vermutete Paul jedenfalls, denn er hatte seitdem nie wieder etwas von seinem Vater gehört. «Und Hauptsache, keine Kinder, damit da nicht so ein Lärm ist. Lärm und Dreck haben wir auch so schon genug, das wird ja immer schlimmer», fuhr sie fort. «Weißt du, was ich hier immer am Schrubben bin? Gestern habe ich versucht, dieses Geschmiere von der Hauswand zu waschen, weißt du, wie mir das auf den Rücken gegangen ist?» Paul stellte sich seine Mutter als Trümmerfrau in geblümter Schürze und mit Kopftuch vor, wie sie auf der Straße stand und mit einem kleinen gelben Schwamm die Erkennungszeichen irgendwelcher Pankower Straßengangs abwusch. «Also, ich bin völlig fertig, und natürlich würde mich auch mal interessieren, wie es dir so geht», schloss sie. «Ruf mich mal zurück, ja? Wie geht es denn der Luna? Furchtbarer Name ist das, da werde ich mich nie dran gewöhnen. Es ist so ein Jammer, dass man sie jetzt gar nicht mehr sieht. Schönen Gruß auch von der Frau Heinlein, sie sagt, du sollst ihr einen Kasten Wasser vorbeibringen, wenn du das nächste Mal zu Besuch …» Es piepte zu Pauls großer Erleichterung. Der Anrufbeantworter hatte ein Zeichen gesetzt und seine Mutter abgeschnitten. Wenn Frau Heinlein jedes Mal auf einen Kasten Wasser wartete, bis Paul seine Mutter besuchte, war sie längst verdurstet, dachte er. Und nach Anrufen wie diesen war es sehr unwahrscheinlich, dass er jemals wieder in die kleine Pankower Straße, in der er seine Kindheit verbracht hatte, einbiegen würde. Geschweige denn zurückrufen.
«Hallo, Papa», erklang die dritte Stimme. Paul fühlte sofort wieder diesen stechenden Schmerz, der so tief ging wie kein Schmerz sonst. «Hallo, Papa», rief seine Tochter noch einmal, jetzt eine Nuance fordernder.
«Der Papa ist nicht da», sagte Marina aus dem Hintergrund mit einer gewissen Strenge. «Das ist nur der Anrufbeantworter.»
«Ich will mit dir sprechen, Papa», sagte Luna noch, dann raschelte und ruckelte es eine kleine Ewigkeit in der Leitung, bis sie endlich aufgelegt hatte. Paul stand da, mit einem Socken in der Hand, und fühlte sich plötzlich grau und hohl und leer. Alles andere, sein Job, dieses ganze Detektivgetue, auch die noch unbekannte Sophie Müller – alles nur Beiwerk, alles nur Ablenkung. Ohne seine Tochter war eigentlich alles nur ein großer Haufen Mist, auf diesen simplen Nenner konnte man das bringen. Berlin, seine Wohnung, das ganze seltsame und freudlose Leben, das er hier führte. Er überlegte, ob er sich seinem depressiven Schub voll und ganz hingeben sollte, dann straffte er sich, genau in dem Moment, als aus der Robbe eine Werbeinsel wurde und die aktuelle Media-Markt-Werbung die Verrückten da draußen anschrie. Gut, dass gleich das Taxi kam und er keine Zeit und noch einiges zu tun hatte. Paul stürmte zu seinem Kleiderschrank und riss ein paar dunkle Socken heraus, ein schwarzes Hemd, ein schwarzes T-Shirt, dazu ein Paar dunkelblauer Jeans. Marina hatte mal gesagt, man trage schwarz und blau nicht zusammen, das wäre eine modische Todsünde, deshalb tat er es seit ihrer Trennung andauernd. Und zwar auch und gerade heute.
Er zog sich die Hose halb über und humpelte ins Bad, wusch sich das Gesicht und griff nach seiner elektrischen Zahnbürste. Sein Blick fiel auf das Bild seiner lachenden Tochter, das er damals in dem Bällebad aufgenommen hatte, in das Luna immer so gerne von der Kinderrutsche aus hineingerutscht war. Sie saß zwischen lauter bunten, kleinen Plastikbällen auf dem Boden vor der Rutsche und streckte die Arme zum Himmel. Sie war damals noch keine drei Jahre alt gewesen und strahlte eine Lebensfreude aus, von der er sich eigentlich jeden Morgen und
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