Schlechte Gesellschaft
ihnen schmeichelte und Geschichten erzählte, machte am Ende der jüngere Vahlen die meisten Eroberungen. An manchen Tagen beobachtete ihre Mutter, wie Hermann in sich gekehrt auf dem Hof die Arbeit verrichtete, während Rudolf am Gatter mit den Mädchen scherzte, als wolle er den Bruder absichtlich reizen. Und in solchen Momenten sorgte sich Kläre, dass aus den Spielchen ihrer Söhne eines Tages bitterer Ernst werden könnte.
In Marthas Vorstellung dagegen gehörten die drei Geschwister, trotz der Streitereien, untrennbar zusammen. »Eines Tages«, hatte Rudolf halb im Spaà gesagt, »wird unsere kleine Martha dieses Dorf verlassen. Auf dem Rücken eines weiÃen Pferdes trabt sie davon, und ihre Brüder werden sie auf allen ihren Wegen begleiten.« Martha errötete, ganz wie Rudolf es gewollt hatte. Von ihrem Traum, wie die GroÃmutter Irma einen Mann zu heiraten, der sie aus Sehlscheid fortbringen würde, erzählte sie niemandem.
Die ruppige Zuneigung der GroÃmutter war sie gewohnt. Und auch der Gleichmut Kläres, die ihrer Tochter nur selten ein freundliches Wort zukommen lieÃ, hatte Martha nie etwas anhaben können. Aber ohne ihre Brüder schien ihr das Dasein selbst, das Aufstehen und das Zubettgehen, das Ziegenmelken und das Rübenstechen, die Nachmittage am Burplatz, an denen sie die Röcke und Tücher wie dunkle Blumen im Wäschebecken hin und her bewegte, nicht vorstellbar.
Am Tag ihrer Abreise weigerte sich Martha, von ihrem Strohbett aufzustehen. Hermann und Rudolf, die gekommen waren, um nach ihr zu sehen, fanden die kleine, rundliche Gestalt, die Knie angezogen, die Hände fest vor das Gesicht gepresst, wie sie ihnen im Halbdunkel der Kammer den Rücken zuwandte. Erst als sie begannen, Martha am ganzen Leib zu zwicken und zu kitzeln, brach sie in ein plötzliches und von Schluchzen begleitetes Lachen aus, mit dem sie lange nicht mehr aufhören konnte.
Die Witwe Kläre hatte ihren Söhnen für den Weg nach Koblenz einen Beutel mit Broten und eine Flasche Morbelswein eingepackt. Als Martha, die darauf bestanden hatte, sie bis zur Hümmericher Mühle zu begleiten, endlich laut heulend kehrt gemacht hatte, setzten die jungen Männer sich als erstes an den Wegrand und tranken die Flasche mit groÃen Schlucken aus. Sie versicherten einander mehrfach, dass es ihnen nicht schwer fiel, Sehlscheid zu verlassen. SchlieÃlich mussten sie ihr Land verteidigen. Im Dorf, sagten sie sich, würde das Leben seinen alten Lauf nehmen. Die Männer waren fast alle eingezogen, aber die Frauen waren es gewohnt zuzupacken.Zumindest, meinte Rudolf, könnte ihnen zu Hause niemand die Mädchen wegschnappen.
Müde machten sie sich wieder auf den Weg, und nun begann auch der Hund Schnapp zu fiepen und zu jaulen. Noch vor StraÃenhaus musste Rudolf das Tier mit Schimpfen und Tritten in Richtung des Dorfes zurückjagen.
Bereits im Oktober 1914 kamen die Vahlen-Brüder, dürftig an der Waffe ausgebildet, in Flandern an die Front. Sie lieÃen einander im Gefecht nie aus den Augen, teilten die Verpflegung und zogen sich abends in den Unterständen gegenseitig die nassen Stiefel von den Beinen.
Als Hermann wenige Wochen später bei Ypern unter ein Kartätschgeschütz geriet, glaubte Rudolf einen Moment, er läge selbst im kalten Schlamm. Er zerrte den Körper des Bruders unter den Rädern hervor und schleppte ihn im Lärm der Geschosse durch die Schützengräben, zwischen Drahtverhauen und Granatenkratern hindurch bis ins Feldlazarett.
Hermanns linkes Bein hing als zerquetschte Masse aus Leder, Stoff und Fleisch an seinem Körper. Die Ãrzte wollten sofort amputieren, aber Rudolf stellte sich ihnen in den Weg, und schulterzuckend zogen sie die Vorhänge um das Bett des Verletzten wieder zu. Hermann begann, im Fieber von der Schönheit der Heimat zu reden, und Rudolf musste sich die Ohren zuhalten, um nicht selbst verrückt zu werden. Bei seinem nächsten Besuch konnte er eine Krankenschwester überreden, seinem Bruder Spritzen gegen den Schmerz zu geben. Als er Hermann wiedersah, sagte der gar nichts mehr. Rudolf rief die Ãrzte zurück, aber die schüttelten nur noch den Kopf.
Mehrfach wollte der Lazarettobere den Kanonier Rudolf Vahlen an die Front zurückschicken, Jedes Mal konnte er ihm einreden, er müsse bei seinem sterbenden Bruder bleiben. Dann erholte Hermann sich doch. Seine
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