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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Born
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Verletzung, das wurde den Brüdern klar, hatte ihnen beiden das Leben gerettet. Die Kameraden aus ihrem Bataillon waren alle gefallen. Rudolf wurde einem neuen Regimentzugeordnet, das sich auf die moderne Angriffstechnik mit Giftgas konzentrieren sollte, und zog etwas weiter westlich erneut in die Gräben. Hermann aber hatte den Krieg hinter sich, bevor das Schlimmste begann.
    Ernst und erwachsen kam der ältere Vahlen-Sohn im Februar 1915 nach Hause zurück. Im Invalidenheim hatte man ihm für das narbenglänzende Bein eine Manschette angefertigt, die er mit einer Schnalle gleich unter der Hüfte befestigte. Die Schmerzen blieben. Tagsüber sah man Hermann oft minutenlang teilnahmslos. Noch lange schrie er nachts im Schlaf. Er kroch durch den Schlamm des Feldes und suchte nach seinem Bein. Manchmal meinte er beim Aufwachen, die Rückkehr nach Sehlscheid wäre nur ein Traum. In Wirklichkeit wäre er im Krieg gefallen, und sein Körper faule in einem der Gräben von Flandern.
    Für andere war unter den weiten Hosen lediglich eine Steifheit zu bemerken. Auf der Hauptstraße und in der Hohl hielt Hermann sich aufrecht, wenn er die Nachbarn grüßte, und verzog beim Gehen keine Miene. Er heiratete Emmy Gehrke, eine tüchtige und kluge Frau, deren Eltern einen großen Hof im Unterdorf besaßen. Das Walzwerk beförderte Hermann schon kurz nach seiner Einstellung zum Aufseher. Und bald war der Vahlen-Sohn als einer der ersten Kriegsrückkehrer trotz seines geringen Alters und des verkrüppelten Beines hoch angesehen.
    Hermann war immer gleich zur Stelle, wenn im Dorf wegen der Vagabunden um Hilfe gerufen wurde. Fasste man einen Dieb, dann kümmerte er sich selbst um die Überstellung an die Wache in Arlich. Man dürfe keine Schwäche zeigen, sagte er oft. Das sei man dem guten Frieden schuldig. Und der werde nicht mehr lange auf sich warten lassen.
    Hermann machte im Brinkschen Gasthaus kein Geheimnis daraus, dass er den deutschen Kaiser verehrte. Aber die Politik und ihre Berliner Misswirtschaft, die schlechten Berater, das sagte er jedem, der es hören wollte, seien seine Sache nicht. Und außer dem jungen Kehl, der in Koblenz für kriegsuntauglich erklärt wordenwar, und dem alten Baumgart, dessen Vater schon Sozialdemokrat gewesen war, stimmten ihm alle zu.
    Wenigen der Bewohner von Sehlscheid fiel es auf, dass Hermann kaum noch von seinem Bruder sprach, der allein an der Front war. Nur die Mutter bemerkte, wie sein starrer, bis zur Anmaßung stolzer Ernst alle anderen Eigenschaften Hermanns nach und nach auslöschte. Und die Witwe Kläre begann, die neue Strenge ihres Sohnes, die im Gasthaus so leichthin mit Aufrichtigkeit und Moral verwechselt wurde, zu fürchten.
Funde (April 2007)
    Â»Wir waren stehen geblieben bei Ordner achtundvierzig. Manuskripte anderer. Hier ist noch eine ganze Mappe mit Briefen, die mir recht geordnet erscheint. Zeitraum – sagen wir 1968 bis etwa …«, Wieland blätterte die Papiere durch, »… 1975. Und da ist wieder ein Brief von Gellmann.« Er sah Judith triumphierend an, sie beugte sich zu ihm herüber und küsste sein Ohr.
    Schon am Morgen des zweiten Tages war Wieland auf einen Stapel Briefe mit der ihm inzwischen vertrauten Type von Gellmanns alter Reiseschreibmaschine gestoßen. Sie waren in einen Extra-Ordner abgelegt. Wieland hatte zu Judith herübergeblickt, die gerade selbst in einen Brief vertieft war. Dann hatte er den Stapel durchgesehen.
    Die meisten der Luftpostbögen stammten aus den siebziger und frühen achtziger Jahren. Sie kamen aus Frankfurt, London, Italien. Auch Vahlen war herumgekommen. New York, Berlin, die Gastdozentur in Texas, der Aufenthalt in Kalifornien. Die Freunde mussten sich fast wöchentlich geschrieben haben. Manche der Briefe Gellmanns waren mehrfach geknickt und angegriffen, als habe Vahlen sie tagelang bei sich getragen. Am liebsten hätte Wieland sie gleich gelesen. Aber er wollte Judiths Vertrauen nicht missbrauchen.
    Â»Ich habe hier Briefe von Gellmann«, hatte er mit nachdenklicher Stimme gesagt, als hätte er gerade erst festgestellt, worum es sich handelte. Und sie hatte aufgeschaut und ihn angestrahlt, so dass auch Wieland grinste.
    Seit vier Tagen arbeiteten sie nun am Nachlass. Die Vahlen-Witwe war in dieser Zeit nicht aufgetaucht. Judith schien auch gar nicht zu wissen, wann ihre Mutter wieder kommen würde. Alexia, die

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