Schlechte Gesellschaft
Schulferien hatte, fuhr am Morgen mit dem Fahrrad zum nahegelegenen Reiterhof, und sobald sie in der Eingangshalle die Tür zufallen hörten, liefen Wieland und Judith die Treppen vom Dachboden hinunter in Judiths Schlafzimmer. Abends tat der Doktorand aus Rücksicht auf das Kind, als würde er im Gästezimmer lesen. Ungeduldig in Manuskripten und Briefen blätternd, wartete er auf ein Zeichen von Judith. Dicht an ihren Körper gedrängt schlief er nachts ein und erwachte nur, weil Judith sich mit nackten Brüsten über ihn beugte und er sein Glied schwer werden spürte.
Wielands Befangenheit gegenüber Judiths fehlender Hand entwickelte sich schnell zu einer verschämten Neugier, einer Faszination, die ihn in der kurzen Zeit ihrer Trennungen kaum loslieÃ. Noch immer hatte er den missgebildeten Arm nicht richtig gesehen. Eines Morgens im Bett hielt er ihn fest.
»Wie ist das passiert?«, fragte er.
»Da ist nichts passiert«, sagte sie. »Das war schon immer so.«
»Ist es schlimm für dich?«
»Nein.«
Wieland fand, sie hätte etwas eingehender antworten können. Aber dann war er doch froh, als sie nach einem kurzen Moment des Schweigens vorschlug, mit dem Nachlass weiterzumachen.
Tagsüber unterbrachen sie die Arbeit nur, um sich zu küssen, sie machten kurze Spaziergänge am Wiesenbach oder schoben sich gegenseitig kleine Brothappen in den Mund. Am Nachmittag bestellten sie Pizza aus der Dorfgaststube und öffneten eine Flasche Wein.
Jetzt, wo sie einen GroÃteil der Papiere bereits aufgelistet hatten, arbeiteten sie ruhig und schweigend vor sich hin. Wieland stelltenur noch Fragen, wenn er unsicher war. Judith kannte das Werk ihres Vaters gut, ebenso die meisten Daten und Ereignisse aus seinem Leben. Sie antwortete knapp, aber freundlich. Und manchmal rückte sie mit ihrer Kladde dicht an ihn heran, so dass ihre Schultern sich berührten.
Häufig hielt Judith beim Ordnen inne, um eine Erzählung ihres Vaters zu lesen, einen Brief oder ein Gedicht. Wieland sah sie eintauchen in diese Welt vor ihrer Zeit. Das Haar fiel ihr ins Gesicht. Ihre Züge wurden weich, der Mund kindlich.
Wenn er selbst las, glaubte Wieland manchmal, dass die Witwe recht gehabt hatte. Einige dieser Briefe gingen tatsächlich niemanden etwas an. Ihn nicht und vielleicht nicht einmal Judith. Gerade Gert Gellmanns Briefe waren von einer Klugheit und Ehrlichkeit, wie Wieland sie bei ihm kaum für möglich gehalten hätte. Dann empfand er Eifersucht, Bedauern, denn er hatte eine solche beinah zärtliche Verständigung unter Männern nie erlebt, obwohl er schon älter war als Vahlen und Gellmann damals.
Manchmal ärgerte er sich über seine Neugier, die ihm dann vor allem als Gier erschien. Für seine Arbeit hatte er genug Material. Die Briefe an Vahlen warfen ein ganz neues Licht auf Gert Gellmann. Aber jetzt begann Wieland, sich zunehmend für Peter Vahlen zu interessieren. Er bekam Lust, sein ursprüngliches Forschungsziel zu vernachlässigen zugunsten dieser einmaligen Gelegenheit, mehr über den zu seinen Lebzeiten so bekannten Romancier zu erfahren. Er wollte unbedingt herausfinden, warum die so besondere Freundschaft zwischen Gellmann und Vahlen zu Ende gegangen war und was genau Judith damit zu tun hatte.
Wieland versuchte, nicht darüber nachzudenken, was während der Tage, die er im Haus der Vahlens verbracht hatte, mit ihm passiert war â und noch weniger, was passieren würde, wenn die Witwe wiederkam. Er wollte sich nicht verrückt machen. SchlieÃlich hatte sie es zugelassen, dass er den Nachlass gemeinsam mit Judith ordnete.
Als er mit der Auflistung der Hörspielmanuskripte fertig war,zerrte er eine der groÃen Plastikwannen unter der Dachschräge hervor, die sie bisher übersehen haben mussten. Zuerst meinte er, es handele sich um Unterlagen des Aurum Verlags. Beim Ãffnen der ersten Mappe fielen ihm alte Fotos und Dokumente entgegen. Die SchwarzweiÃaufnahmen verschwammen an den Rändern, ihr Papier war kunstvoll geriffelt. Die Postkarten stammten aus der Vorkriegszeit. Aber dann fand Wieland auch Aufnahmen in Farbe und Notizbücher, die sämtlich in der flachen, jungenhaften Handschrift Peter Vahlens beschrieben waren. Es schien sich um Textentwürfe zu handeln, auch Jahreszahlen, Namen und Orte waren notiert.
»Notizen und Entwürfe«, sagte er laut. »Ich würde
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