Schlechte Gesellschaft
als wäre Wielands Unsicherheit eine Zumutung.
Judith war dagegen nervös, geradezu erregt, so wie er. Aber ihre Begeisterung über den Fund wirkte berechnend. Sie hatte kaum gezögert, ihn darum zu bitten, das Fragment ihres Vaters zu veröffentlichen. Bei dem Gedanken, sie hätte ihn womöglich nur deshalb auf den Dachboden geführt, damit er das von ihr zurechtgelegte Manuskript entdeckte, wurde Wieland wütend. Er fragte sich, ob sie die ganze Zeit, während er gewissenhaft die Papiere sichtete, während sie zusammen im Bett waren, sich näher kamen, nur darauf gewartet hatte, dass er es endlich fand?
Mit trägen Handbewegungen begann er die Hosen und Hemden zu falten, die er achtlos in seine Reisetasche hineingeworfen hatte. Er stellte die Schuhe ordentlich ausgerichtet unter den Heizkörper und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Vor dem Spiegel tastete er die dunklen Schatten unter seinen Augen ab. Sein Gesicht hatte sich nicht verändert. Warum auch. Er selbst hatte sich nicht verändert. Er hatte nur ein paar Tage lang gedacht, er wäre ein anderer.
Gleis 7 (März 1971)
Die Bahnhofshalle war erfüllt vom Zischen der Lokomotiven, dem Surren der Leitungen, dem rasselnden Geräusch der Gepäckwagen. Gemurmel, Rufe und Kindergeschrei in zwanzig verschiedenen Sprachen mischte sich zu einem einzigen, aufsässigen Brausen. Züge fuhren ein, andere kamen in Fahrt. Gruppen von Reisenden strömten heran, umarmten sich, glitten auseinander.
Hella sah Gellmann jetzt wenige Meter vor ihr den Zug entlanggehen, eine groÃe Reisetasche über der Schulter. An einem Zeitungsstand blieb er stehen und las die Schlagzeilen. Absichtlich liefsie dicht an ihm vorbei in Richtung des Ausgangs. Aber er bemerkte sie nicht, schaute nicht auf.
Hella stellte sich vor, wie er gleich hinter ihr gehen würde. Er müsste sie sofort erkennen, so wie sie ihn in jeder Menge sofort erkannt hätte. Vielleicht würde er sie beobachten, wie sie langsam an den Schaufenstern vorüberging. Die Eiligen machten einen Bogen um sie, manche stieÃen sie an, einer schimpfte. Und Hella meinte, spätestens jetzt würde Gellmann auf sie aufmerksam werden.
Während des ersten Sommers im Haus hatte Gellmanns unverhohlenes Interesse Hella gleich gefallen. Sein Verlangen hatte nichts Höfliches, seine Zuneigung wirkte kompromisslos. Sie hatte nie verstanden, warum Gellmann damals von einem Tag auf den anderen weg und nach Frankfurt gegangen war.
An einem ihrer letzten Abende im Gasthaus war Vahlen zu den Bauern an den Ecktisch gegangen, um über die Kirmesvorbereitungen zu sprechen. Hella war am Tisch sitzen geblieben und rauchte. Als Gellmann nicht von der Toilette wiederkam, hatte sie sich gelangweilt. Sie verlieà die Schankstube, um nach ihm zu sehen. Gellmann stand im Vorraum beim Telefon. Sobald er sie sah, legte er hastig den Hörer auf. Er habe nur mit einer Freundin gesprochen, sagte er. Hella war überrascht gewesen, dass er sie wegen eines Telefongesprächs warten lieÃ. Aber Gellmanns Reaktion hatte ihr Erstaunen wie Eifersucht aussehen lassen. Und die wegwerfende Geste, mit der er über die Andere sprach, traf Hella, als gehe es um sie selbst.
Nachdem Gellmann gegangen war, hatte sie die Enge und Einsamkeit mit Vahlen auf dem Land erst richtig gespürt. Sie sprachen nie aus, was offensichtlich war: Sie beide fühlten sich von dem Freund verlassen. Ihre festgefügte Zweisamkeit, dieses Miteinander, ohne das Hella sich ihr Leben einmal nicht mehr hatte vorstellen wollen, war zur Eintönigkeit geworden. Vahlen und sie waren auf sich selbst zurückgeworfen. Das perfekte Paar, wie sie von Freunden gerne genannt wurden, das perfekte Paar.
Vahlen hatte Gellmanns neue Freundin anfangs verteidigt. Eineim Grunde biedere Frau, die auf freien Sex bestand, als ginge es um Tischmanieren. Bei Demonstrationen war sie auf ihr Erscheinen im Vordergrund bedacht. Hella glaubte sie schon einmal gesehen zu haben, auf einer Party von Freunden. Sie erinnerte sich an indianerhaft glattes Haar, an ein schmales Becken. Gellmann wirke wie angebunden, sagte Vahlen, ein Hofhund der seine Wachsamkeit verloren hat.
Die Freunde wechselten regelmäÃig Briefe. Als sie aus Amerika zurück waren, besuchte Vahlen Gellmann in Frankfurt. Er fand, Gellmann sei stabiler geworden, weniger chaotisch. Aber Hella hatte ihn sich abgestumpft vorgestellt. Bis sie ihn an diesem
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